Wenn touristisch orientierte Rennradfahrer ein Leuchten in den Augen bekommen, sehnen sie sich meistens ins Hochgebirge, und die Alpen oder die Pyrenäen stehen ganz oben auf der Wunschliste. Bei den Radprofis hingegen richtet sich der Fokus gerade auf eine Region, die – wenn überhaupt – für Mittelgebirge bekannt ist. Der Monat der berühmten Eintagesrennen liegt vor uns. Der April gehört den Klassikern.
Am kommenden Wochenende steht die Flandern-Rundfahrt vor der Tür (3. April), und dann geht es im Wochentakt weiter mit den großen Frühjahrsklassikern. Amstel Gold Race am 10. April, Paris-Roubaix am 17. April, und schließlich Lüttich-Bastogne-Lüttich, das am 24. April den krönenden Abschluss der Klassiker-Saison bildet. Mit Flandern, Roubaix und Lüttich-Bastogne zählen drei der vier genannten Rennen zu den sogenannten "Monumenten des Radsports", und auch wenn das Amstel in der Aufzählung ein wenig abfällt, ist es doch einer der prestigeträchtigsten Klassiker, die es im Profikalender gibt.
Denkt man sich diese vier Rennen als Stecknadeln auf einer Landkarte, so fällt auf, dass sie geballt im Westen Europas, in oder rund um Belgien stattfinden. Oudenaarde, das Ziel der Flandern-Rundfahrt, und Lüttich liegen im absolut radsportbegeisterten Belgien, Roubaix in Frankreich nur unmittelbar südlich der belgischen Grenze, und das niederländische Valkenburg, Ziel des Amstel Gold Race, im Dreiländereck mit Belgien und Deutschland. In diesem Blogbeitrag möchten wir daher die Radsportnation Belgien (und ihre Umgebung) ein wenig näher betrachten, die Klassiker-Reviere vorstellen, und nicht zuletzt auf unsere geführten Rennradreisen aufmerksam machen, bei denen du die Strecken der mythischen Klassiker selbst erleben kannst.
Die Beine brennen. Der Steigungsmesser zeigt Werte im deutlich zweistelligen Prozentbereich. Auf der schmalen, steilen Straße, die mehr ein Feldweg zu sein scheint, ist mit weißer Farbe wieder und wieder der Name "Phil" gepinselt, es wirkt wie eine Leiter aus Schriftzügen statt Sprossen, über die man sich und sein Rennrad in die Höhe wuchtet. Wenn man überhaupt ein Auge für die Buchstaben hat. Die Aussicht über das liebliche Tal der Amblève, die grünen Hügel ringsum, hat man schon längst ausgeblendet. Die Blicke hängen am im Wiegetritt schwankenden Hinterrad des Vordermannes. "Lass ihn ziehen", flüstert das Engelchen auf der linken Schulter, "versuch einfach mit Anstand hier raufzukommen, sollen die anderen sich doch alleine kaputt fahren, schließlich geht es ja um nichts..." Doch der Engel kämpft auf verlorenden Posten, denn längst hat der Teufel auf der anderen Seite die Oberhand übernommen. Auch wenn man eigentlich nur zum Vergnügen hier ist, wird keine Bergwertung freiwillig hergeschenkt. Auch wenn man oben dann nach Luft ringend über dem Lenker hängt...
Mit Phil ist natürlich Lokalmatador Philippe Gilbert gemeint, der unweit von hier aus der altehrwürdigen Bergbaustadt Verviers kommt. Unsere kleine Geschichte spielt an der weltbekannten Côte de la Redoute oberhalb von Sougné-Remouchamps, die Jahr für Jahr die Schlussphase des ältesten Klassikers überhaupt einläutet. La Doyenne. Liège-Bastogne-Liège. Lüttich-Bastogne-Lüttich. Kann man sich an der Redoute erfolgreich von der Favoritengruppe absetzen, geht es wellig weiter über Sprimont und weiter ins Tal der Ourthe, dann muss man die mörderisch steile Côte de la Roche aux Faucons überstehen, erreicht schließlich die Vororte von Lüttich, wo schon im Stadtgebiet mit der Côte de Saint-Nicolas der allerletzte Berg überquert werden muss.
Der Schauplatz des Rennens: Die Ardennen. Der westlichste Teil des Rheinischen Schiefergebirges, sozusagen das Schwestergebirge zur Eifel weiter östlich. Für sich genommen ein typisches Mittelgebirge. Eine idyllische Landschaft, geprägt von dichten Wäldern, sanften Hügeln, Kuhweiden in absoluter Einöde. Blicke, die über Täler hinweg von Hügelkette zu Hügelkette reichen. Es ist schön hier, sehr schön, keine Frage. Für sich genommen eben ein Mittelgebirge unter vielen. Die gefürchtete Redoute - nüchtern betrachtet handelt es sich um einen Anstieg von 180 Höhenmetern.
Der belgische Radsport-Flair macht den Unterschied. Die Begeisterung des ganzen Landes für den Radsport. Wenn sich auch Flamen und Wallonen, die niederländisch- und die französischsprachige Bevölkerungsgruppe, nicht auf vieles einigen können, ist die Radsportbegeisterung hier wie dort vielleicht der größte gemeinsame Nenner. Als zum Auftakt der Tour de France 2017 die erste Etappe von Düsseldorf nach Lüttich führte, waren sämtliche Spuren davon auf deutscher Seite schon am nächsten Tag wieder verschwunden. Während entlang des belgischen Teils der Route noch jahrelang gelbe, grüne und rot-gepunktete Trikots an den Hauswänden hingen. Man hat eben sofort die Bilder von den Monumenten im Kopf, wenn man die ersten "Phil"-Schriftzüge auf der Straße sieht. Und kann dann gar nicht anders als selbst all in zu gehen. Das Teufelchen auf der rechten Schulter übernimmt.
2,1 km können lang sein. Extrem lang. Verdammt lang. So schlimm wird es schon nicht sein, haben wir uns gedacht, eben die üblichen Meister im Schönreden. Man biegt um die Kurve und stellt in der allerersten Sekunde fest: mit den sauber verlegten Pflastersteinen in der Fußgängerzone einer deutschen Innenstadt hat das hier nicht das geringste gemein. Zwischen den Wackersteinen klaffen riesige Lücken, es ist ein einziges Gerumpel, gut die Hälfte der Kraft auf dem Pedal scheint hier auf dem Pflaster - liebevoll pavé genannt - zu verpuffen. Gute Ratschläge sausen durch den Kopf: man müsse mit Kraft drüber drücken, bloß keine Geschwindigkeit verlieren, sonst rumpelt es nur noch mehr. Hieß es, und wir haben fleißig genickt. Doch 2,1 km sind endlos, wenn der Lenker die Vibrationen ungefiltert in die Arme weiterleitet. Es lockt der schmale Erdstreifen neben dem Pflaster, nur wenige Zentimeter sind es, Dreck und Straßenstaub, zum Glück war es die letzten Tage trocken, sonst wäre es knöcheltiefer Matsch. Dann - irgendwie - hat man den kompletten Sektor hinter sich gebracht. Wir zählen rückwärts in Gedanken, das war Sektor vier, noch drei folgen. Was wir nicht geahnt haben: das Asphaltstück zwischen Sektor vier und drei ist eigentlich nur die Überquerung einer asphaltierten Landstraße, und es geht praktisch nahtlos auf Pflaster weiter...
Carrefour de l'Arbre lautet die Bezeichnung dieses Punktes, und was in deutschen Ohren einen gewissen poetischen Klang aufweist, heißt übersetzt ganz banal "Kreuzung am Baum". Wir befinden uns ganz im Norden Frankreichs, nur einen Steinwurf von der belgischen Grenze entfernt in den Vororten der Industriemetropole Lille. Auf dem Weg in einen Vorort, der für Radsport-Fans einen fast schon mythischen Klang hat. Roubaix.
Es ist Flachland. Keine Erhebung bis zum Horizont zu sehen. Die nordfranzösische Ebene. Die Höhe nur noch etwa 50 m oberhalb des Meeresspiegels im Ärmelkanal. Öde, endlose Agrarflächen, vor den Toren einer Stadt, die ihre industrielle Blütezeit schon lange hinter sich gelassen hat. Und dennoch eine Region, die die Herzen von Rennradfahrern höher schlagen lässt. Es sind die ebenso liebevoll restaurierten wie gnadenlosen Kopfsteinpflasterstraßen, die hier im Norden Frankreichs und auch jenseits der Grenze in Flandern die Schwierigkeit darstellen, nicht die Berge. Mögen es viele Rennradfahrer für einen Anachronismus halten und Schweißausbrüche bekommen beim Gedanken, ihren Carbon-Liebling über diese Straßen zu prügeln, für ein sinnloses Gemetzel an Mensch und Material, so ist es doch etwas, das man erlebt haben muss. Und spätestens bei der Ehrenrunde im Velodrom von Roubaix - das in der Regel für jedermann frei zugänglich ist - hat man die Strapazen auf den Sektoren, die man mühevoll heruntergezählt hatt, stets die innere Sinnkrise bekämpfend, an dieser Stelle vergessen. Dann ist da nur noch der Triumph.
Wir stellen die Räder vor etwas ab, das wie eine Baracke am Straßenrand aussieht, eine kleine schmucklose Hütte mit leuchtenden Schriftzügen in den Fenstern. Drinnen: ein paar Tische und Stühle, eine Kühltheke mit allerlei panierten und nicht panierten Fleischprodukten, dahinter Berge von Fritten, die oberhalb der Batterie von Friteusen darauf warten, ins heiße Fett gekippt zu werden. Da wir in Belgien sind: Rinderfett. Wehe, wenn man "Pommes" sagt, in Belgien heißt es frites, friet oder eben Fritten. "Une fricandelle, une moyenne frite avec sauce Samouraï", bestellt ein mutiger Mitfahrer. Es ist fettig, es ist mächtig. Doch als die goldgelben Fritten mit einer riesigen Kelle aus der Friteuse gefischt werden, ist es auch das beste ravitaillement der Welt. Die Schwierigkeiten der heutigen Etappe liegen hinter uns, also für jeden noch ein Kwaremont. Das Bier ist nach dem Oude Kwaremont benannt, einem der Scharfrichter der Ronde van Vlaanderen unweit vom Zielort Oudenaarde...
Flamen und Wallonen können sich - zähneknirschend - auf Radsport als gemeinsamen Nenner einigen. Aber auch auf zwei weitere Nationalheilige: Bier und Fritten. In Deutschland hat die Pommes- oder Imbissbude etwas leicht anrüchiges, Fast food eben. In Belgien ist die friterie oder frituur eine Institution. Jung und alt steht an der Theke, hält ein Schwätzchen, während es hinter der Theke im Fritierfett blubbert, und stolz verlässt man die Bude mit in Packpapier eingeschlagenen Päckchen, je mehr Fettflecken desto besser.
Belgien ist nicht nur Rennrad-Passion, sondern auch Rennrad-Lebensart. Die Landesküche ist deftig, aber dennoch raffiniert. Moules frites, boulettes liègoises, Stoofvlees. Dazu wird die Bierkarte gereicht, die ein echter Belgier kommentarlos zurückreicht, wenn sie weniger als zwanzig Positionen enthält. Was im benachbarten Frankreich der Wein ist, ist in Belgien das Bier. Darauf ein La Chouffe!
Belgien mit dem Rennrad erleben kannst du mit quäldich. Beim Kurztrip in den Ardennen beziehst du Quartier in Verviers im Herzen des Reviers von Liège-Bastogne, und die legendären Côtes stehen ebenso auf dem Programm wie unbekannte Perlen der einsamen Ardennen, sowie Abstecher ins benachbarte niederländische Mergelland, dem Schauplatz des Amstel Gold Race, in die Hochmoore des Venn und die Rureifel. (Fast) das ganze Land entdecken kannst du bei der Belgien-Rundfahrt. Ausgehend von Lüttich führt sie in sieben Etappen zunächst über Bastogne in die einsamen südlichen Ardennen, dann entlang der Grenze zu Frankreich ins idyllische Semois-Tal. Nach einem Auslands-Abstecher nach Roubaix entdeckst du das Territorium der Ronde mit den gepflasterten Hellingen wie Koppenberg oder Muur van Geraardsbergen. In der flandrischen Ebene entdecken wir das malerische Brugge, das als die schönste Stadt Belgiens gilt. Auf (beinahe) der Originalstrecke von Liège-Bastogne kehrst du denn nach Lüttich zurück. Eine Rundfahrt auf den Spuren der Klassiker, aber auch eine Entdeckungsreise in ein absolut radsportbegeistertes Land.
Anmerkung: der Autor entschuldigt sich demütig bei @Luc und @LeLion für allzu klischeehafte Darstellung ihres Heimatlandes.