24.08.2021,
Jan:
Tom wirft in der Regel nicht so inflationär mit Superlativen um sich wie ich. Wenn er diese Etappe also "Fantastische Route des Salasse" nennt, wird er seinen Grund haben. Ich bin sehr gespannt, weil ich sie noch nicht kenne. Über die Route umfahren wir den ersten Teil des Aostatals bis zur Mittagspause in Morgex. Mit dem Colle San Carlo kann man von dort den zweiten Teil bis La Thuile überbrücken. Den kenne ich auch noch nicht, aber der ist nicht in der Regelplanung dieser Etappe enthalten. Er ist nichtmal in einer Verlängerungsoption dieser Etappe enthalten, und das völlig zurecht, weil die letzten drei Etappen sehr hart waren, vor allem die gestrige. So ganz abgeschrieben habe ich die Befahrung aber dennoch noch nicht, und wir können uns an der Mittagspause in Morgex entscheiden, je nach Wetter, Beinen und Guidebedarf. Ich bin entspannt, mein Egotrip kommt übermorgen.
Die Etappe beginnt aber erstmal mit einer rauschenden Abfahrt. 55er-Schnitt bis zum Kleidungsabwurfplatz in Étroubles, den Denny gestern kompetent fernerkundet hat, und der für diesen Zweck wie geschaffen ist, liegt er doch genau in einer engen Kehre, für die wir eh abbremsen müssen. Natürlich fahren dennoch einige im Abfahrtsrausch vorbei.
Kurz darauf biegen wir rechts auf die
Route des Salasses ab. Ich bin heute mal in Gruppe 1 unterwegs, weil es Isa in ihrer Gruppe 2 ohne mich besser gefällt ;) das erste Steilstück drücke ich mit den schnellen Jungs, Christoph, Markus und Werner. Gunnar findet es auch doof, dass ich in seiner Gruppe bin, weil die Schlachtfeste bisher ausblieben und er Angst hat, dass wir gleich eins ausschreiben. Machen wir aber gar nicht, und die zweite Stufe fahre ich dann ganz brav mit Gunnar im Gruppetto, das ist eh angenehmer. Und ich kann hier auch die Blicke hinunter ins Aostatal und auf die Bergwelt der anderen Talseite viel besser genießen. Fantastisch, da hat Tom nicht untertrieben. Mehrfach müssen wir anhalten. Werner sieht hier gar den bisherigen Höhepunkt unserer Reise. Leider habe ich am Hochpunkt nicht genug Netz um mich zu orientieren. Ich weiß nicht, wo das
Valsavarenche rein geht, und später in Morgex sehe ich, dass das genau gegenüber war. Mir gefällt die Verbindung zum
Nivolet, auch wenn ich die
Wanderung bisher nicht für mich auf dem Schirm habe.
Eine rauschende Abfahrt später stehen wir an der Brücke über die Dora Baltea, und schon wieder ertönt die Motivklingel. Gerade schon im schönen Ort Avise, jetzt für das azurblaue Gumpenwasser unter uns.
Gunnar glaubt, im folgenden leicht ansteigenden Talstück sein fehlendes Abfahrtstempo kompensieren zu müssen und leitet mit einem Windsolo den mit Abstand anstrengendsten Tagesabschnitt ein. Drei Kilometer vor Morgex (Mont-Blanc-Blick und Wasserfallblick auf dem Weg dorthin) erbitte ich Gnade, und ich darf für das Schlussstück die Führung übernehmen, bei ca halbiertem Tempo.
Norbert gefällt es auch nicht, als ich ihn am Mittagspausenplatz begrüße. Niemand will mich heute. Zum Glück hatte ich eine glückliche Kindheit, und ich erinnere mich, anstatt in Depression zu verfallen, an gigis Empfehlung, in Morgex ins da Beppo einzukehren. Er meinte natürlich zum Mittagessen, aber so gekränkt bin ich nun nicht, dass ich Norberts Mittagsbuffett nun ganz ausschlage. Aber um ihm etwas Zeit für den Aufbau zu gönnen, gönnen wir uns ebendort einen caffè doppio. Und keine Angst, natürlich haben wir Norbert Hilfe angeboten, aber mal ehrlich... keiner hier kann das besser als er, und wir sind im caffè trinken auch einfach besser als im Mittagsbuffet aufbauen.
Als wir eine halbe Stunde später wiederkommen, ist Gruppe 2 schon eifrig am mampfen, und Norbert freut sich nun auch, mich zu sehen. Alle wieder versöhnt, wie schön! Auch Gruppe 3 kommt, und Denny gibt mir die Freigabe für den San Carlo. Das Wetter sieht auch noch gut aus, also wagen Christoph und ich uns an den
Colle San Carlo. 1000 Höhenmeter auf 10,6 km – eine ehrliche Sache. Die Blicke halten sich wie bekannt in Grenzen, unsere Steigleistung ist zumeist um die 1000 Hm/h, und somit stehen wir ziemlich genau eine Stunde später am Passschild. Schönes Ding! Die Stichstraße zum Tête d'Arpy, wie von
artie_1970 empfohlen, muss ich heute auslassen. Die Wolken würden den Mont Blanc sicher verdecken, und immer dickere, dunkle Wolken bauen sich über dem Aostatal auf. Nichts wie weiter. Nach einer rasanten Abfahrt trinken wir in La Thuile eine Druckbetankungscola und eilen dem
Kleinen Sankt Bernhard zu. Christoph macht Druck wie vorher. Das wird mir zu viel, ich lasse ihn ziehen. Dieser Pass könnte unterschiedlicher kaum sein im Vergleich zum San Carlo. Die Steigung liegt immer zwischen 5 und 6 Prozent, nur die abschließenden Kehren sind mit 9 % etwas steiler. Schön ist es auch, offene Almen und freie Blicke statt Wald! Nördlich dräuen die Gewitterwolken, auch östlich Richtung Bourg St Maurice sieht es nass aus. Also weiter, weiter! Den Gruppenkopf von Gruppe 3 in Form von Rüdiger, Sigi und Oliver sehen wir noch vor der Passhöhe, aber von Gruppe 2 ist nichts zu sehen, ich vermute sie vor uns. Also weiter. Auch am Passschild nur Christoph. Ein schnelles Selfie und hinunter in die Abfahrt, die im oberen Teil mit Pylonen auf der Mittellinie bestückt ist. Sehr irritierend. Die Straße ist nass, vor uns scheint es hier geregnet zu haben. Die Falllinie in Richtung Bourg St-Maurice erscheint trocken, wir sehen die Stadt weit unter uns in der Nachmittagssonne. Es könnte genau aufgehen, und wir lassen es laufen. 1000 m vor dem Ziel fallen dicke Tropfen. Als Christoph und ich das Rad im Radraum abstellen, können wir unser Glück kaum fassen. Aber nur Gruppe 1 ist da. Wo ist Gruppe 2? Im Hagel hinter uns. Völlig durchgefroren erreichen sie das rettende Hotel. Auch Gruppe 3 wird nass, ohne Hagel. Aber alle sind gesund angekommen und freuen sich auf die heiße Dusche! Ich bin gespannt, wie danach die Meinung zu der Etappe ausfällt. Ich fand sie toll!
Morgen wartet der höchste Alpenpass, der
Col de l'Iséran!
Ursprüngliche Etappenbeschreibung
Nach der schweren Bergankunft gestern ist die heutige Etappe deutlich leichter. Sie ist zwar lang, aber die ersten etwa 25 km sind rauschende Abfahrt - am frühen Morgen natürlich entsprechend warm angezogen. Allzu unaufmerksam sollte man allerdings nicht ins Tal jagen, denn sonst verpasst man den Abzweig auf die Route des Salasses, die oberhalb des Aostatals am Hang entlang führt und uns einige Kilometer auf der viel befahrenen Hauptstraße erspart. Und zudem noch hübsche Ausblicke auf die umliegende Bergwelt serviert. Ein Stück Hauptstraße bis Pré-Saint-Didier bleibt uns dann jedoch nicht erspart. Ab hier allerdings geht es wieder in die Berge, der kleine Bruder des Grand Saint Bernard steht auf dem Programm. Auch der Col du Petit Saint Bernard ist lang, und man muss sich die Kräfte gut einteilen, dafür hat man von oben einen der schönsten Blicke auf den Montblanc. Die Abfahrt vom Pass führt uns bis ins savoyardische Seez, oberhalb von Bourg-Saint-Maurice gelegen, wo wir die Nacht verbringen.