Bericht von Samstag, 28.8.2021. Heute morgen also wartet tatsächlich schon der allerletzte Anstieg der Tour, der es natürlich noch einmal in sich hat, die Befahrung eines der höchsten asphaltierten Punkte der Alpen zur
Cime de la Bonette (2802 m). Die Touristiker geben sich ja alle Mühe, hier die
Plus haute Route d'Europe zu verkünden, und auch wenn das einfach falsch ist, ist die Aussage immer noch in aller Köpfe. Es ist ja nicht mal die
Plus haute Route des Alpes, denn die liegt am Tiefenbachferner an der
Ötztaler Gletscherstraße mit 2830 m, war aber immerhin mal der
Plus haute Rond Point des Alpes. Aber auch das nicht mehr, seit die Einbahnstraßenregelung auf der Gipfelschleife zur Cime aufgegeben wurde. Hier ein Superlativ zu finden ist also nicht so einfach, und so behauptet man einfach etwas Eingängiges.
Nicht so wir auf unserer letzten Etappe von Freiburg-Nizza 2021! Wir müssen nichts erfinden für Superlative. Wir hatten eine der besten denkbaren Reise-Gruppen. Wir hatten das beste Alpentourenwetter von 2021, ohne Regen, zumindest nicht dort, wo ich gefahren bin. Und die gesamte Reise von Freiburg nach Nizza, oder zunächst einmal nach Jausiers, von wo aus wir unsere letzte Etappe angehen, ist reich gespickt mit Superlativen.
Etwa für Marco. Auf Marco wartete der erste persönliche Superlativ schon nach 5 Kilometern Einrollen, noch auf dem Stadtgebiet von Freiburg. 900 Höhenmeter am Stück auf den
Schauinsland – persönlicher Rekord! Für mich wartete die am stärksten erwartete Aussicht des Rennradjahres 2021 am
Col du Chasseral, wo ich 2012 im Zuge unserer Schweiz-Rundfahrt einer der eindrücklichsten Momente meines Rennradlebens und den besten Ausblick auf die Alpenkette erlebt habe (dieses Jahr tief hängende Wolken, aber Blick auf die Seen). Auf Etappe 3 dann (man denke an Marco) Weltrekord für die gesamte Reisegruppe: der höchste Anstieg am Stück auf die großen Alpenpässe: 2009 Höhenmeter ab Martigny auf den
Col du Grand St. Bernard. Da waren wir von Freiburg durch Schwarzwald, Jura und die Voralpen bis in die Hochalpen vorgedrungen. Was für ein majestätisches Gefühl, was für ein Erlebnis, was für eine Bereicherung! Auch für mich persönlich, der ich noch nie hier oben war! Auf Etappe 4 eine rasante Abfahrt, die königliche
Route des Salasses und die Erkenntis von Werner, dass es ja jeden Tag noch schöner werde! Täglicher Superlativ! Dann die gemeinsame Bezwingung des wirklich höchsten Alpenpasses, dem
Col de l'Iséran, auch hier mussten wir nichts erfinden. Zugleich die kürzeste und somit urlaubsgleichste Etappe mit Ziel am Wellnesshotel. Hier fand nun Isa, dass es ja nun nochmal schöner geworden war, und in der Abendansprache konnte ich einen der schönsten Alpenpässe für den Folgetag ankündigen, den
Col du Galibier, fünfthöchster seiner Zunft! Für mich folgte stattdessen die emotionalste Etappe des Jahres, mein
Egotrip zum Club-2K-Abschluss gemeinsam mit Sven. Tränen vom Chef in
Sestriere. Und dann die überraschend schöne Auffahrt zum
Col d'Izoard gestern, die ich auch seit 21 Jahren nicht mehr gefahren war. Oder lag es an den bezaubernden Damen in Gruppe 2, an Isa, Kristin und Lena, die mir den Blick vernebeln?
Eine Reise der Superlative liegt also schon hinter uns heute morgen, als wir in Jausiers die letzte Etappe angehen, und für den ein oder anderen auch eine Reise zu sich selbst, denn wo lernt man sich besser kennen als im Angesicht der Erschöpfung? Heute genau vor einem Jahr waren Lena und ich schon einmal hier, auf der
vorletzten Etappe der Monumente der Südalpen 2020. Das Wetter ist heute noch besser. Wir hören die Lok auf Zwei Beinen von Peter Fox, und Marco lässt seine Pleuelstangen gen Gipfel rotieren.
Ein Hund kann nicht krähen, ein Fisch kann nicht schreien, und er kann nicht stehen bleiben, er ist ein rollender Stein!
10,5 km vor dem Col de la Bonette passieren wir einen Trinkwasserbrunnen, der mir vorher nicht bekannt war, und ab hier tauchen wir ein in die wunderschöne Hochgebirgswelt am Bonette. Heute bleibe ich hinten, und die Höhen der großen Alpenpässe liegen nach und nach unter uns:
Furkapass (2436 m),
Col du Grand St. Bernard (2473 m),
Timmelsjoch (2474 m),
Nufenenpass (2478 m),
Umbrailpass (2503 m),
Großglockner-Hochalpenstraße (2504 m),
Passo di Gavia (2618 m),
Col du Galibier (2645 m). Dann erreichen wir (ganz faktisch) den Faux Col de Restefond (2656 m), den eigentlichen Passübergang zwischen Ubaye- und Tinéetal, von dem eine geschotterte Piste zum
Col de la Moutière (2454 m) führt und ab da asphaltiert ins Tinéetal. Ohne jede Mogelei wäre das eine beeindruckende Höhe, und ebenso der vierthöchste Alpenpass wie der kurz darauf erreichte
Col de la Bonette (2715 m)! Aber wir wollen höher, an der Höhe des
Col Agnel (2744 m),
Stilfser Joch (2757 m) und
Col de l'Iséran (2764 m) vorbei bis zur
Cime de la Bonette (2802 m). Tolles Wetter, Jubel, Gipfelfotos! Ich passe auf die Räder auf, viele gehen noch hoch zur wirklichen Cime de la Bonette mit fantastischem Panorama-Rundumblick auf 2860 m. Hier oben denkt keiner daran, Superlative zu erfinden.
Nun liegen 116 km finale Abfahrt vor uns, erst hinunter zur Tinée, dann die Tinée und den Vars hinunter zum Mittelmeer. Das lässt bei mir schon Gänsehaut aufkommen, denn die letzte Abfahrt ist immer die gefährlichste, und diese letzte Abfahrt ist lang. Natürlich habe ich die gesamte Gruppe heute noch einmal darauf eingeschworen, die Konzentration hoch zu halten, bis das Fahrrad im Hotel abgestellt ist. Vorsichtig fahren wir entsprechend nach St. Etienne de Tinée hinab und lassen uns nochmals von Norbert verwöhnen! Obwohl es vornehmlich sonnig ist, ist die Abfahrt doch sehr kalt, und wir stehen bei Norbert am Stehtisch in der Sonne und wärmen uns auf. Noch 91 km! Der Wind meint es mal wieder nicht gut mit uns, windstille Bereiche wechseln sich mit heftigen Gegenwindpassagen ab. Manchmal sieht man in den Linkskurven entlang der Tinée schon, wie sich die Grashalme nach rechts biegen. Lenker festhalten und in die Kurve legen! Dennoch werden die leichteren Frauen ordentlich durchgeschüttelt. Masse wächst im Kubik, die Angriffsfläche nur im Quadrat, hier liegen die schweren Jungs klar im Vorteil.
Tunnel, vierspurige Straße, Radweg, dann wieder Nebenstraßen durch wenig anheimelnde Industriegebiete. Egal, Konzentration hochhalten. Endlich hat ein Boulangère offen, wo wir Törtchen und Café bekommen, 30 km vor dem Ziel. Dann Schaulaufen auf dem Radweg vom Flughafen zur Promenade des Anglais!
Nice! Arrivés a Nice! Fahrrad abstellen! Alle heile geblieben! Was für eine Reise! Freiburg-Nizza, ein Superlativ!
Ab ins Mittelmeer!
Ursprüngliche Etappenbeschreibung
Durchatmen, letzte Kräfte mobilisieren, denn heute Abend wartet das Mittelmeer auf uns. Ein Hindernis gilt es jedoch noch zu überwinden, und das ist nicht irgendein Hindernis, sondern der höchste Punkt der Woche. Der Col de la Bonette ist 2715 m hoch, was auf der Rangliste der Alpenpässe immerhin noch zu Platz vier reichen würde, doch das hat den Erbauern der Straße im Mercantour-Nationalpark wohl nicht gereicht. Und so musste es noch eine Panoramaschleife sein, die Cime de la Bonette, die die Marke von 2800 m Höhe überschreitet. Bei all dieser Diskussion um Höhensuperlative darf man jedoch nicht vergessen, was für ein grandioses landschaftliches Erlebnis der Pass ist. Die lange Abfahrt vom Pass führt uns dann sozusagen direkt bis nach Nizza. Sie führt zunächst ins Tinée-Tal, das ins Var-Tal mündet, und der Var mündet bei Nizza ins Mittelmeer. So können wir wahlweise nochmal richtig Tempo aufnehmen, oder aber unsere Fernfahrt gemütlich ausklingen lassen. So oder so, nach der Ankunft an der Promenade des Anglais in Nizza winkt ein Bad im azurblauen Meer. Und am nächsten Morgen optional der Rücktransport per Reisebus nach Freiburg.