Unter Urlaub versteht ja jeder etwas anderes. Für die Teilnehmer der quäldich-Reisen bedeutet Urlaub, den ganzen Tag auf dem Rad zu sitzen. Berge fahren. Pässe fahren. Ankommen. Gut zu Abend essen, noch zusammen sitzen und dann ab ins Bett, ausruhen für morgen, wo der Plan der gleiche ist.
So weit besteht Einigkeit. Und in dieser Gruppe, die sich dieses Jahr beim Lombardei-Giro getroffen hat, besteht allgemein besondere Einigkeit, so scheint mir. Auch darüber, dass wir natürlich den Vivione fahren, auch wenn die Wetterprognose eher brüchig ist. Man könnte ja auch das Val Camonica entlang von Darfo Boario Terme nach Ponte di Legno fahren. Das wären 60 km und 1000 Höhenmeter. Es besteht Einigkeit, dass das kein ganzer Tag auf dem Rad wäre.
Also starten wir in den
Passo del Vivione, der unten durch drei lange Tunnels führt, die ziemlich lang, aber heute zum Glück beleuchtet sind. Über die Schönheit der durchfahrenen Schlucht besteht Einigkeit. Schon erreichen wir den Abzweig, den wir gestern Richtung
Croce di Sálven genommen haben. Gleich darauf passieren wir den Abzweig zum
Presolana, und nun betreten wir Neuland für diese Gruppe. Auch ich war schon vierzehn Jahre nicht mehr am Vivione und freue mich sehr darauf. Hinter Schilpario erreichen wir die absolute Einsamkeit. Die Straße wird einspurig und zieht in Kehren durch den Wald nach oben. Nebel zieht auf, ich fühle mich wie Ronja Räubertochter in der skandinavischen Einöde.
Die Straße erreicht nun die Alm und windet sich im offenen Gelände unterhalb der Felsspitzen des Concarena-Massivs imposant in die Höhe. Hier spätestens wird es richtig schön, die Straße verläuft an einer Felswand entlang um diese herum und biegt in den Einschnitt des Vivionepasses ein. Zwei Kuppen wie von Kinderhand gemalt, der Bergsee, das Passschild, das Rifugio. Traumhaft.
Heute verpflegen wir uns einmal nicht bei Sylvia. Der quäldich-Bus passt vielleicht noch bergauf auf die Passstraße, aber sicherlich nicht mehr bergab. So kommen wir in den Genuss der tollen Rifugio-del-Vivione-Verpflegung. Unbedingt eine Empfehlung wert. Tolle Menschen, tolle
Pizzocheri, toller
caffè. Ich bin mir mit mir einig, dass ich wiederkomme.
Die Abfahrt ist wie gesagt eng und läuft nicht gut, aber schön ist sie trotzdem, zumal sie voll in der Sonne liegt, und schon stehen wir am Stadtrand von Edolo. Hier fällt jeder eine Entscheidung: Bedeutet ein ganzer Tag auf dem Rad nun, dem Val Camonica nach Ponte di Legno zu folgen, oder bedeutet es die lange und sehr harte Zusatzschlaufe, die ich gestern noch aus dem Hut gezaubert habe? Diese führt von hier in Richtung
Apricapass und in Megno steil hinauf in Richtung Guspessa-Kammstraße und über den Mortirolo und Monno zurück ins Val Camonica. 85 km / 2.500 Höhenmeter vs. 121 km / 3600 Höhenmeter. Wie hättest du dich entschieden?
Vier sind sich einig, direkt ins Hotel zu fahren. Acht sind sich einig, dass ein Urlaubstag im Sattel erst nach 18 Uhr endet und fahren Richtung
Valico di Baite Salena, zunächst also Richtung Apricapass. Wir wählen die kaum befahrene Nebenroute statt der Aprica-Staatsstraße. Die 7-m-Längenbegrenzung wird von einem Sattelauflieger vor uns Missachtet. Verkehrsinfarkt. Wir wurschteln uns durch, und schon sind wir in Megno. Hier beginnt das Schlachtfest. 900 extrem unrhythmische Höhenmeter auf 9 Kilometern, oben werden wir die 3000 Höhenmeter voll machen. Aber diese Blicke! Schnell schrauben wir uns in die Höhe. Die westwärts gerichteten Kehren blicken direkt ins Adamello-Massiv (Hauptbild der Etappe), die Gegenrichtung hinunter ins Tal, hinunter auf Aprica und somit auf den Aprica-Pass (siehe unten). Ohne Schatten windet sich die Straße durch offene Almen, voll der Sonne ausgesetzt. Heiß, hart, schön! "Jetzt weiß ich endlich, was quäldich heißt", sagt Willi.
Und oben wissen wir alle, was wir gemacht haben. Alle sind stark angeknockt, wir brauchen jetzt etwas zu essen, aber zunächst müssen wir die 15km-lange Guspessa-Kammstraße hinter uns bringen. Müssen? Dürfen! Sie ist immer wieder unglaublich, besonders die Blicke hinunter ins Veltlin, auf Tirano, den Einschnitt des
Berninapasses, auf Grosio und das Val Grosino dahinter, das sich tief in die Rätischen Alpen hineinzieht. Mountainbike-Terrain.
Triumphales Mogelbild am Mortirolo. Mit letzter Kraft retten wir uns ins Rifugio etwas unterhalb der Passhöhe, essen Kuchen und Panini, trinken Lemon Soda und
caffè. Die Lebensgeister kehren zurück. Der Rest ist ein Kinderspiel. Im leichten Nieselregen erreichen wir Ponte di Legno.
Wir sind uns einig: das war ein erfüllter Tag im Rennradsattel.
Das war eigentlich einmal geplant, wurde aber über den Haufen geworfen –
das wäre ja sinnlos gewesen:
Eigentlich sinnlos, denn den Mortirolo fahren wir sowieso übermorgen nochmal... aber so ist man ihn dann von beiden Seiten gefahren.