Zur Stunde steigt in Lourdes die quäldich-Poolparty, und selbstverständlich fällt sie feucht-fröhlich aus. Jedoch nicht in dem Sinne, wie der geneigte Leser nun auf den ersten Blick denken mag; schließlich ist ein Pool per definitionem feucht, und quäldich-Reiseteilnehmer*innen zwar nicht per definitionem fröhlich, aber nach einer wunderbaren Tourmalet-Etappe zum Auftakt der Pyrenäen-Reise eben doch. (Alkoholexzesse sind hier aufgrund der Bierpreise eh nicht denkbar, aber ansonsten haben wir mit dem Hotel in Lourdes das große Los gezogen; schöne Grüße an dieser Stelle an @
AvvPazzo, den größten Kenner französischer Gastronomie im quäldich-Metaversum.)
Moment mal. Die Reise heißt doch Pyrenäen-Geheimtipps. Zählt der Tourmalet, quasi die Perfektion des Pyrenäen-Mainstreams, etwa neuerdings als Geheimtipp? Und führen wir das Motto unserer Reise nicht schon am ersten Tag ad absurdum (schon die zweite lateinische Wendung, die ich in diesem Bericht verwende!), wenn wir den Tourmalet fahren? Nun ja, zum einen muss man das alles mit den Klassikern und Geheimtipps nicht so ernst nehmen, sondern einfach Spaß auf dem Rennrad habe, und zum anderen zählen ja eigentlich die kompletten Pyrenäen als Geheimtipp, da überhaupt nur die wenigsten und wagemutigsten Rennradfahrer*innen die längste Autofahrt ihres Lebens am Stück in Kauf nehmen, um eine dortige quäldich-Reise in Anspruch zu nehmen. Tourmalet ist also genehmigt, und selbst wenn irgendjemand im quäldich-Metaversum Einspruch erheben sollte, juckt uns das überhaupt nicht. Denn wir hatten eine grandiose Etappe.
Heute morgen geht es also los, mit einer weiteren ausschweifenden Ansprache des Reiseleiters, aber daran haben sich schon beim gestrigen (hervorragenden) Abendessen alle gewöhnt und sind nun nicht mehr so leicht zu schocken. Keine Wolke am azurblauen okzitanischen Himmel und hochsommerliche Temperaturen. So nehmen wir die Auftaktetappe gerne in Angriff. Christoph fährt dann mit der sportiv-ausdauernden Hybridgruppe (und dem dringenden Auftrag, sich einen weniger sperrigen Gruppennamen auszudenken) zuerst los, kurz darauf die entspannte Gruppe unter meiner Leitung. Auf der
voie verte des Gaves cruisen wir die ersten 18 km der Etappe recht locker dahin, denn nach meinem Etappenauftakt-Scouting gestern habe ich beschlossen, den kompletten Radweg bis Pierrefitte-Nestalas zu nutzen, statt schon vorher auf die Landstraße abzudriften. 18 km ohne jeden Autoverkehr sind doch schon einiges wert.
Danach quetschen wir souverän die erste Geländestufe weg, wo sich das Gave-Tal schuchtartig verengt. Oben winke ich die Gruppe in eine Haltebucht, um festzustellen, ob noch alle da sind. Doch es stellt sich heraus, dass wir gar nicht warten müssen, alle sind mir tapfer gefolgt und die Gruppe ist komplett. Guiding leicht gemacht. Kurz darauf erreichen wir Luz-Saint-Sauveur, wo wir in einer sehr netten Bar noch einmal die Bidons füllen, um für den Anstieg von nun noch ca. 1400 Höhenmeter gerüstet zu sein. Wohl weil sie von ständigen Radfahrer-Anfragen nach Wasser genervt waren, hat die Bar einfach einen Self-Service-Zapfhahn eingerichtet. Chapeau - zumal sie nicht einmal ein Trinkgeld für diesen Service annehmen möchten. Thomas sehen wir mit der Verpflegungsstation plangemäß erst an der Passhöhe wieder, und so sind alle froh, mit gefüllten Flaschen in den Anstieg zu starten.
Wieder werden die Freigabe-Rufe zunächst komplett ignoriert, und ich darf in woutvanaertesker Manier das Peloton in den Berg führen. Es braucht ungefähr fünf Kilometer, bis dann doch die ersten Mitfahrer*innen mit den Hufen scharren und ihr Heil in der Flucht suchen. Ich nutze die Gelegenheit, um in Barèges noch einmal kurz beim Bäcker zu halten. Irgendwie habe ich Angst, dass der Kohlenhydratpegel doch nicht bis zu Thomas reicht. Also ziehen Moni und Jochen, die mir zuletzt noch die Treue gehalten haben, davon. Im Nachhinein erweist sich meine Zusatzpause jedoch als weise, denn so komme ich zu einem kurzen Plausch mit Anja, der Freundin von unserem Guide @
Ron2020, die zufällig vorbei fährt und mein quäldich-Trikot sofort erkennt. Schön, wenn die Welt manchmal ein Dorf ist.
Dann aber nichts wie der Gruppe hinterher. Oberhalb von Barèges wird die Landschaft erst so richtig hochpyrenös, und es wird immer schöner. Die Passhöhe kann man schon erahnen, der Pic du Midi prangt am Himmel, und die karge Pyrenäenidylle erstrahlt in der Sonne. Apropos Sonne: es ist verdammt heiß, und mein Plan scheint nicht aufzugehen, bei Einsetzen der Mittagshitze schon so weit oben zu sein, dass es angenehmer wird. Es ist auch auf 1500 m Höhe noch heiß, und auch auf 1800 m Höhe noch heiß!
Ich genieße die Ruhe, die selbst dieser stark befahrene Mainstreampass ausstrahlt, beobachte im Vorbeifahren die Murmeltiere bei ihren Kopulationsversuchen (oder vielleicht waren es auch irgendwelche viel harmloseren Murmeltierspiele, wer weiß das schon). Bald habe ich das Grupetto wieder aufgefahren, und wir sprechen uns gegenseitig Mut zu für die noch fehlenden drei Kilometer Passstraße. Es wird langsam zäh, aber die Euphorie treibt uns herauf. Der finale Kilometer hat nochmal zehn Prozent Durchschnittssteigung, und wir überholen so viele schiebende Radfahrer, wie ich sie noch nie an einem anderen Ort gesehen habe. Dann sind wir oben. Triumph. Wir haben soeben den höchsten Straßenpass der französischen Pyrenäen bezwungen.
Thomas erwartet uns mit dem Buffet-Cruiser kurz hinter der Passhöhe, und wir genießen die verdiente Stärkung. Als ich während der Pause schon meine Windjacke anziehe, muss ich feststellen, dass es mir selbst auf 2100 m Höhe mit Jacke noch zu warm ist. Das hatte ich auf der Höhe auch noch nie erlebt. Seis drum, Jacke wieder aus, und erstmal ein wenig Smalltalk mit amerikanischen Touristen, die das Radfahrer-Denkmal auf der Passhöhe vermissen. Das entsprechende Gebäude ist wohl gerade eine Baustelle und wird vermutlich durch ein noch größeres Selbstbedienungs-Restaurant mit Souvenir- und Finisher-Trikot-Shop ersetzt werden - das Stilfserjoch lässt grüßen. Aber ich kann die Urlaubsstimmung und das Fotoalbum der Amerikaner retten, indem ich ihnen vorschlage, stattdessen das Eugène-Christophe-Denkmal an der Schmiede unten in Sainte-Marie-de-Campan zu nehmen, und sammle so ein paar Punkte auf der Altruismus-Skala.
Damit ist der Löwenanteil der Etappe absolviert. In der Abfahrt halte ich nur kurz an, um @sylviaw ein Foto von dem Parkplatz zu schicken, auf dem wir anno 2020 die Tourmalet-Burger gegrillt haben. Und schon stehen wir selbst beim Schmied-Denkmal, bleiben aber nur kurz und fahren weiter ab Richtung Bagnères-de-Bigorre.
Eine Gemeinheit haben wir dann noch eingebaut. Zur Hauptstraßenvermeidung fahren wir eine schöne schnucklige Straße durch die Vorpyrenäen, die dann nochmal mit etwa 200 Höhenmetern zu Buche schlägt. Leider handelt es sich um eine Asphaltstraße mit ein bisschen Rollsplitt, und inzwischen ist es auch wieder so heiß, dass ich schon befürchte, die Stimmung könnte kippen. Aber ich habe natürlich die Rechnung ohne unsere quäldich-Reisegruppe gemacht, die sich dadurch überhaupt nicht erschüttern lässt und sich an der einsamen Straße in plötzlich ganz anderer - Jan würde sagen schwarzwaldesker - Landschaft erfreut. Und an den erneuten Blicken auf den Pic du Midi, nun nur noch eine Bergspitze am Horizont. Kaum zu glauben, dass wir diesen Gipfel heute gewissermaßen umrundet haben.
Die Abfahrt ist dann nochmal sensationell für alle Beteiligten bis auf die Bisamratte (oder dergleichen), die Jochen ins Hinterrad rennt. Das Tier ist der einzig leidtragende, Jochen und Hinterrad geht es gut. Und dann noch ein paar flache Kilometer zurück nach Lourdes.
Und ab an den Pool. Morgen geht es nach Spanien.
Ursprüngliche Etappenbeschreibung
Dass bei dieser Reise neben den Pyrenäen-Geheimtipps auch die Klassiker nicht zu kurz kommen, beweisen wir gleich auf der ersten Etappe: mit dem Col du Tourmalet wird gleich der Tour-de-France-Klassiker schlechthin befahren. Erst morgen verlassen wir die "ausgetretenen" Pfade der Pyrenäen und wenden uns den Geheimtipps zu. Der heutige Tag bietet sich also an, sich ein gewisses Klassiker-Polster anzufressen, was wir in den nächsten fünf Tagen aufbrauchen können. Erst am letzten Tag erreichen wir mit dem Col du Marie-Blanque und dem Col d'Aubisque wieder Klassiker-Terrain. Der Tourmalet wird dabei über die schönere und anspruchsvollere Westseite befahren, so dass wir durch den wenig anheimelnden Ski-Retortenort La Mongie auf der Ostseite in der Abfahrt hindurch rauschen können. Und dann geht es im Tal zurück nach Lourdes. Eine Auftaktetappe ohne Hotelwechsel - auch das einzigartig im quäldich-Reise-Kosmos.