30.08.2020,
Jan:
Bericht von Samstag, den 29.82020: Eine Woche mit ziemlichem Wetterglück liegt hinter uns. Das bisschen Regen auf den letzten Kilometern der gestrigen Etappe war fast schon ein Husarenstreich, denn am Vorabend sah es noch so aus, als könnte uns schon am Bonette der Regen erwischen. Und der wäre sicher weniger warm gewesen als die Wellen, die die vorbeifahrenden Autos gestern Abend im Starkregen über uns ergossen haben.
Und auch für den heutigen Tag war gestern noch Regen von morgens bis Abends angekündigt, und so sind wir sehr froh, heute morgen nur einen bedeckten Himmel und feuchte Straßen vorzufinden, aber auch eine Restchance, dass wir heute gänzlich trocken bleiben, wenn wir die Gewitterzellen des Nachmittags günstig abreiten.
Und so starten wir frohen Mutes in den Col St. Raphaël, der direkt in Puget-Théniers an der eindrücklichen Schrägseilbrücke über die Var seinen Ausgang nimmt. Während wir uns in einigen Kehren nach oben winden, wird unsere Zuversicht jäh durch schwere Regentropfen gebremst. Also doch schon die Regenjacke anziehen. Und gleich wieder aus, denn das war's schon wieder. Oben sammeln wir uns nicht lange und stürzen gleich wieder über La Penne und Sigale hinab ins Estéron-Tal stürzen. Hier rollt's, und natürlich fährt die halbe Gruppe am schmalen Abzweig vorbei, der uns nach Aiglun führen soll. Mein erster Impuls, Matthias, Mark und Martin nachzusetzen, wird von den schrillenden Alarmsignalen meiner Beine ausgebremst. Doch lieber anrufen. Aber Matthias hat den Fehler schon erkannt und kommt um die Ecke. Alle grinsen breit von der schönen Abfahrt, und die paar Höhenmeter nehmen sie gerne in Kauf.
Gestern gab's bei uns ja keine Kaffeepause, weil das drohende Gewitter uns gejagt hat, und heute sind alle entspannt. Die meisten reisen erst morgen ab, Heiko hat das Rückfahrticket ab dem Mittagessen bei der Sille gebucht, und die Gruppe 3 ist noch hinter uns, also fallen wir in das schnuckelige Café im schnuckeligen Aiglun ein. Urlaubsstimmung. Hier gibt's sogar drei Fremdenzimmer "et une dortoire", da könne man schon 30 Leute unterbringen. Für Einzelreisende aber sicher eine Empfehlung.
Dann wird es spektakulär. Die Straße fällt leicht ab in die Clue d'Aiglun, einem engen Einschnitt zwischen riesenhaften Felswänden, durch die einige unbeleuchtete Tunnel führen. Staunende Blicke, Motivklingel und Fotostopps aller Orten. Heute hat natürlich niemand mehr mit großen Höhepunkten gerechnet, natürlich dachten alle, es ginge heute hauptsächlich ums ankommen. Geht es ja auch, aber quädlcih wäre nicht quäldich und Tom wäre nicht Tom, wenn er uns nicht noch auf der letzten Etappe überraschen könnte.
Es folgt der sehr lange Anstieg über den Col de Pinpiniet zum Col de Bleine, wo Sille heute zum letzten Mal mit ihrem Buffet auf uns wartet. Es ist stets schön und wird nicht langweilig, aber das ganz große Kino von der Clue wiederholt sich nicht noch einmal. In Le Mas, auf der oberen der beiden möglichen zwei Strecken Richtung Col de Bleine, sitzt die entspannte Gruppe beim Café, so dass die natürliche Gruppenfolge ab hier wieder hergestellt ist. Ab der unscheinbaren Passhöhe des Col de Pinpinier thront der Felsstock der Arpille 500 m über uns und überwacht unseren Sturm auf den Col de Bleine, der letzten Bergwertung der Tour. Mein Sturm ist mehr ein lauer Windhauch, aber als sich kurz nach uns die entspannte Gruppe ankündigt, stürmen Klaus und Horst mit ca 50 km/h auf den Pass. Beeindruckend. Klaus fordert das Fotofinish ein, ungeachtet der erdrückenden Beweislast der Anwesenden.
Und dann stellen wir uns zum letzten Gruppenbild auf. Heiko lässt das Sille-Ticket verfallen und wechselt hier auf die kürzere A-Route, wir anderen wollen noch nach Gourdon zum versprochenen Mittelmeerblick! Bis dahin schlängeln wir uns über eine Hochstraße und mehrere Passmarken zum Col de l'Ècre, aber schon am Col du Castellaras sehen wir, wie sich das Gewitter in der Gorges du Loup festgesetzt hat. Da muss Heiko jetzt sein, und die Gruppe 1. Wir fahren noch bis zum Col de la Sine. Thomas hat in zweieinhalb Kilometern einen Ort ausgemacht, hier wollen wir ein Café finden und lieber eine Stunde abwarten, bis es vor uns wieder freier wird. Kurz darauf erreichen wir eine T-Kreuzung, an der Grasse nach rechts ausgeschildert ist. Das wollte ich mir eigentlich noch ansehen, und in dieser Richtung sieht es deutlich besser aus. Aber der Vorschlag wird abgelehnt, auch weil wir noch nach Goudron wollen, und in die Gorges du Loup. Caussois ist wirklich nur ein kleiner Weiler, aber schon von weiten deuten einige Flaggen auf touristische Infrastruktur hin. Wir erwarten ein großes Restaurant und finden eine kleine Pâtisserie mit sechs Stühlen und einer großen Auswahl an Tartelettes, von der ich mir gleich zwei gönne. An Myrtilles und Framboises kann ich ohnehin nicht ohne Konsum vorbeigehen, und der double expresso sorgt für neue Lebenskraft, während draußen die Welt untergeht. Kurzer Gruppenaustausch ergibt, dass die schnelle Gruppe tatsächlich in der Gorges du Loup vom Gewitter gestellt wurde, sie sitzen kurz unterhalb in der Auberge du Loup und warten auf bessere Zeiten.
Nach einer Stunde trauen wir uns raus, und wenig später rollen wir den Col de l'Ècre hinab. Hier sieht man die Wucht des abziehenden Gewitters: überall Steine, Sand, Äste und Laub auf der Straße.In Gourdon fahren wir geradeaus, um den versprochenen Mittelmeerblick zu testen, und tatsächlich kommt gerade rechtzeitig die Sonne raus. Wow!
Auch durch die Gorges du Loup und am Cascade de Dingsbums ist es noch trocken, und der Regen erreicht uns erst auf den letzten 30 km im Flachen. Selten haben wir so unentspannte Autofahrer erlebt, einer fährt mich im Gegenverkehr fast um, und ich liege ihm schon halb auf der Windschutzscheibe. Wir erreichen das Mittelmeer, aber nach einem Bad steht nun niemandem mehr der Sinn, wir wollen nur noch ankommen. Kurz vor der Var-Brücke müssen wir auf den Radweg ausweichen, denn hier erreicht uns der Rückstau der Tour-de-France-Sperrungen. Die letzten Kilometer haben wir dafür die dreispurige Straße ganz für uns, und irgendwie mogeln wir uns durch die Absperrungen zum Novotel am Flughafen. Dank des schlechten Wetters ist das Superspreading-Event heute wohl ausgeblieben, nur vereinzelt stehen Zuschauer in Regenumhängen am Straßenrand. Gruppe 1 ist kurz vorher eingelaufen und hat die Profis gerade durchfahren gesehen. High Ellbows und glückliche Gesichter. Alle heile ins Ziel gebracht, das ist nach einer solchen Etappe das Wichtigste.
Noch breiter zeigt sich Martins Grinsen nach einer warmen Dusche. Nach einer erfüllten Woche in den Südalpen.
Ursprüngliche Etappenbeschreibung
Wer hätte gedacht, dass es im Hinterland der quirligen Côte d'Azur so wunderschöne, unbekannte Pässe gibt... Auf unserer Schlussetappe nach Nizza treten wir den Beweis an. Der Col de Saint-Raphaël macht den Auftakt, dann geht es zum sagenhaften Col de Bleine, bis wir dann schließlich am Col de l'Ecre zum ersten Mal das Meer wiedersehen. Wir genießen noch die Abfahrt durch die wildromantische Loup-Schlucht, dann sind wir langsam schon wieder im Dunstkreis von Nizza. Wo sich dann nach einer Woche der Kreis schließt – am besten mit einem wohlverdienten Bad im Mittelmeer!