Am 6. August 1998 bin ich meinen ersten 2000er-Alpenpass gefahren. Ich war 21 Jahre alt und ich hatte keine Ahnung. Wenige Tage zuvor war ich am Passwang fast zerschellt, einer kleinen Welle im Schweizer Jura. Ich fuhr eine Übersetzung von 42:23 und wusste nicht, dass man das auch ändern könnte. An diesem 6. August 1998 hatte ich mich demnach schon damit abgefunden, dass ich bergauf langsam bin. Aber ich bin angekommen, am Col de l’Iséran, dem höchsten Pass der Alpen.
23 Jahre und zwanzig Tage später, am 26. August 2021, bin ich meinen letzten fehlenden 2000er-Alpenpass gefahren. Den Colle del Sestriere, einen der unspektakulärsten Pässe unseres Club 2K. In Tränen aufgelöst erreichte ich die Passhöhe. Was für ein emotionaler Moment! 23 Jahre Pässe fahren kulminierten am Radfahrer-Denkmal in Sestriere. Was für ein würdiger Ort!
25 Jahre nach meinem ersten Pass gibt es wohl nur sehr wenige Personen, die die Alpen so gut im Rennradsattel kennen wie ich. Ich bin viel mit dem Rennrad durch Europa gereist. Habe neben den Alpen auch die Pyrenäen, die Karpaten und den Apennin intensiv im Rennradsattel erfahren. Letztlich zog es mich und zieht es mich weiterhin immer wieder in die Alpen zurück, den Ort, wo meine Leidenschaft begann. Die Leidenschaft, Pässe mit Muskelkraft zu bezwingen. Ich kann es nicht erwarten, sie im Juli 2024 noch einmal im Schnelldurchlauf zu erleben. 14 Tage Alpen. Was für ein verwegener Plan!
Die Alpen sind zweifellos Europas größtes und komplexestes Hochgebirge. Weltweit gibt es kein besser erschlossenes, kein zweites mit einem so dichten Netz an asphaltierten Straßen. Beste Bedingungen also für eine Vielzahl von Möglichkeiten, von denen Tom uns die schönste zurechtgelegt hat. Besonders freue ich mich auf den ersten Anstieg, den höchsten Anstieg der Alpen. Von 0 auf 2802 m. Vom Mittelmeer auf die Cime de la Bonette. Wenn das Wetter es erlaubt, werde ich auch noch die 60 Höhenmeter auf den Gipfel laufen, zur 360-Grad-Rundumsicht von der Barre des Écrins über den Monviso und den Monte Argentera bis zum Mittelmeer. Die höchsten Gipfel der Dauphiné-Alpen, der Cottischen Alpen und der Seealpen. Auf dem folgenden Bild von tobsi kann man links die Barre des Écrins erkennen, rechts den Monviso. Als ich zuletzt 2020 oben war, konnte ich die Gipfel noch nicht deuten. Jetzt will ich unbedingt wieder hoch!
Natürlich wird jeder der über 30 befahrenen Pässe ein Fest für mich, aber es sind nicht die ganz großen, berühmten Pässe, auf die ich mich am meisten freue, wie Izoard, Galibier, Furka, Albula und Glockner. Ich freue mich auf den Col de Vars, den ich noch nie von Süden gefahren bin. Und auf den Madeleine, der auf mich eine besondere Magie ausstrahlt, mit dem wunderbaren Montblanc-Blick. Tags darauf haben wir ihn schon zur Hälfte umrundet, und können ihn vom Col de Gueulaz am Lac d’Emosson von Norden bestaunen. Der Gueulaz ist daher für mich die einzige Plus-Option, die ich schon im Vorfeld anvisiere. Auch für mich sind 14 Tage Alpen kein Selbstläufer. Es heißt, von Anfang an die Kräfte beisammen zu halten. Aber gemeinsam... werden wir über uns hinaus wachsen. Gemeinsam werden wir es schaffen.
Weiter geht es das ganze Wallis hoch, über Furka und Oberalppass, die die Quellen zweier großer europäischer Ströme verbinden: Rhône und Rhein. Westalpen: check! Willkommen in den Ostalpen. Albulapass, Ofenpass, Stilfser Joch, Ortler. Stilfser Joch: einer meiner liebsten Orte der Alpen, Trubel hin, Bausünden her. Der Stelvio enttäuscht nie. 2023 bin ich von allen drei Seiten hoch gefahren, zu verschiedenen Anlässen. Unten mit meinem lieben Willi bei der Lombardei-Rundfahrt.
Nach neun anspruchsvollen Etappen endlich der Ruhetag in Bozen. Hier kenne ich eine wunderschöne Eintagestour, eine der schönsten der Alpen. Wir fahren sie auf unserem Kurztrip in Südtirol, heute aber müssen wir hier zu Kräften kommen. Uns für die letzten Etappen stärken. Vielleicht ist die Runde Mendel-Gampen genau die richtige? 77 km, angenehme Steigungen, zwei schöne Pässe im Kasten. Besser, man fährt 40 km flach und legt sich wieder ins Bett. Oder man macht mal gar nichts und legt die Beine hoch. Das ist für mich eher keine Option, sonst gehen meine Beine in den Revisionsmodus.
Es folgen die Dolomiten. Die lange Anfahrt zum Grödnerjoch aus dem Eisacktal lässt sie langsam vor uns aufbauen, einer der schönsten Vorhang-Auf-Effekte der gesamten Alpen. Wunderschöner Valparola. Der caffè im Rifugio geht auf mich, in Erinnerung an einen tollen Passjagdaufenthalt hier oben. Am Falzarego stehen wir im Felsatrium der ladinischen Sagenwelt. Passo Tre Croci. Col Sant’Angelo. Drei-Zinnen-Blick heute, Befahrung später. Wehmütiger Abschied von den Dolomiten.
Den Glockner bin ich mehrmals von Norden, aber noch nie komplett von Süden gefahren. Nur einmal im Mai im nasskalten Nebel von Bruck zur Franz-Josephs-Höhe und zurück.
Unser letztes großes Highlight, letzte gewaltige Alpenhauptkammquerung unserer epischen Tour.
Es trennen uns nur noch zwei Tage von Wien. Lasst uns die Konzentration hochhalten. Flachetappe. Auf 190 km zeigt sich der Vorteil einer an Tag 13 zusammen geschweißten Gruppe. Wir wechseln im Wind. Gemeinsam weiter, Wien fest im Blick. Rechts und links lassen wir Graupen und Perlen auf meiner todo-Liste liegen. Der Schoberpass kann warten. Das Hochkar muss warten.
Zum Finale noch einmal über sechs Pässe. Überschaubare 1.500 Höhenmeter. Epochaler Einzug nach Wien.
High Five. Tränen. Triumph!
P.S. am 20. November bin ich zur quäldich-Wintertournee in Wien. Sehen wir uns?