22.08.2022,
Jan:
Weltneuheit auf quaeldich-Reisen: die erste Etappe unserer Entdeckungsreise in die Cottischen Alpen steht ganz im Zeichen des Schottermonuments
Colle delle Finestre. Im letzten Jahr um diese Zeit hatte ich den Anstieg noch im Rahmen meines
Club-2K-Abschlusses gescoutet, und konnte so bei der Etappenansprache am gestrigen Tag im Brustton der Überzeugung sagen: die Naturstraße sei glatt wie ein Babypopo - keiner müsse sich vor dem Colle delle Finestre fürchten! Und außerdem reiche eine Trinkflasche, denn am Asphaltende sprudele Trinkwasser aus einem Brunnen.
Vielleicht hatte diese Fehlinformation ja etwas Gutes, und der ein oder andere Teilnehmer konnte daher vielleicht etwas beruhigter einschlafen. Denn natürlich kann das Belagsroulette einer Naturstraße am ersten Tag die ohnehin vorhandene Nervosität am ersten Tage nicht mindern. Wie fit sind die anderen? Kann ich mithalten? Wie schlage ich mich am ersten Anstieg, mit 18,5 km und 1675 Höhenmetern ohnehin schon einer der härtesten Anstiege der Alpen, ein großer Alpenanstieg mit 9,1 % im Schnitt! Und die letzten 7,8 Kilometer davon nicht asphaltiert!
Die ersten 32 flachen Kilometer gelten heute morgen noch dem Einrollen, als wir bei bestem Wetter unseren Etappenort Avigliana verlassen. Das Hotel, etwas schmucklos im Gewerbegebiet gelegen, hat sich mit einem wunderbaren Abendessen in unsere Herzen gekocht, und so verlassen wir es nur ungern. Aber, gute Nachricht, wir sind noch drei Tage in Italien, und so hoffen wir auf das abendliche Hotel, das wie das gestrige seinen Einstand gibt auf quäldich-Reisen. Einstand geglückt!
Auf etwas verworrenen Wegen verlassen wir Avigliana, und als der Track kurz darauf auf eine verschrankte Straße abbiegt, entscheide ich mich spontan, auf der Provinzialstraße zu bleiben, auf der wir es zunächst in Zweierreihe probieren. Das mögen die Italiener nicht sonderlich, aber der Verkehr hält sich in Grenzen, so dass wir uns etwas unterhalten können. Wir wollen uns ja schließlich kennenlernen. Kurz vor zehn aber schießen die ersten Motorräder an uns vorbei. Es ist Sonntag, heute dürfen all die Valentino Rossis aus Turin ihre Rennmaschinen ausfahren. Das ist uns zu heikel, und wir fahren lieber in Einerreihe nach Susa ein, wo wir natürlich noch einen Caffè trinken wollen. Susa ist soo ein schönes Städtchen, und am Sonntagmorgen noch wunderschön verschlafen. Mittags würden wir es nicht wieder erkennen bei all den Tagesausflüglern, die aus dem heißen Turin in die Berge fliehen. Was für ein Caffè! Italien! Kleine Stadtrundfahrt, und dann aber weiter, hinein in den Finestre!
Auf den ersten elf asphaltierten Kilometern fahren wir durch einen dichten Mischwald. Immer wieder säumen mächtige Edelkastanien den Weg. Dazwischen ein schmales Asphaltband erster Güte, hin und wieder auch schon ein Blick auf die andere Seite des Susatals zum Einschnitt des
Col du Mont Cenis. Die Motivation ist groß, alle drücken, was das Zeug hält, und so sind die ersten 1000 Höhenmeter schnell weggedrückt, schon stehen wir am angekündigten Brunnen. Und aus dem Brunnen tropft es nur. Und auch nur anfangs. Tobias entringt dem Brunnen noch irgendwie eine Trinkflasche, danach ist der Quell versiegt, auf den ich mich leider verlassen habe, sicherlich unklug im trockensten Sommer seit Menschengedenken hier in der Poebene. Nach einiger Zeit fängt es wieder an zu tröpfeln, und mit etwas Geduld ringe ich dem Quell noch eine Drittel Trinkflasche ab, dann geht es in das Schotterstück. Der Anfang ist so schlecht wie letztes Jahr. Alles im Rahmen. Aber dann wird es nicht viel besser. War die Straße letztes Jahr im besseren Zustand, oder ist es nur die Vergangenheit, die die Erinnerung auf die Piste vergoldet? Glatt wie ein Babypop ist diese Straße nicht! Zumindest fällt der Verkehr für unsere Gruppe 2 dieses Jahr geringer aus als letztes - verkehrsfrei ist der Finestre nur Mittwochs und Samstags. Kilometer um Kilometer kämpfen wir uns nach oben, immer auf der Suche nach der besten Linie, die Steinsammlungen auf der Straße meidend, die glattpolierten Abschnitt suchend. Endlich erreichen wir die erste Alm und damit die Kehren, jetzt öffnen sich die Blicke zusehends, und zu der Höchstkonzentration gesellt sich die Begeisterung über die alpine Szenerie, die wir ab nun durchmessen. Auch beim zweiten Mal weiß mich der Finestre zu überzeugen. Er ist für mich einer der schönsten Anstiege der Alpen, und - so sagt Uwe an diesem Abend treffend - etwas ganz besonderes, einen Alpenanstieg dieser Größenordnung auf Naturstraße zu erklimmen.
Und - wie so oft - stellt sich heute Abend heraus, hatte keiner von uns allen einen Platten am Finestre.
Diesen Moment halten wir stolz auf dem gemeinsamen Passbild fest. Wir haben es geschafft! Wir reißen uns los von den atemberaubenden Blicken auf den Schlusshang und stürzen uns in die asphaltierte Abfahrt der Gegenseite. Wie schön, endlich wieder Asphalt unter den Rädern zu haben. Einige hundert Meter tiefer steht Natascha mit der Mittagsverpflegung bereit. Mit der ihr eigenen Ruhe empfängt sie uns ausgehungerten Heuschreckenschwarm. Schließlich haben wir fast 2000 Höhenmeter in den Beinen, und noch ca 45 Kilometer vor uns. Rainer ist schon wieder weg, seine Gruppe 1 biegt unten auf der Talstraße des Val Chisone nach rechts ab und nimmt den
Colle del Sestriere noch als Stichstraße mit. Auch Rainer hat den
Club 2K fest im Blick. Joachim, Johannes und Rolf nehmen sich ein Beispiel an der Heldentat und melden sich aus meiner Gruppe ab. Meine Beine sind heute nicht die Besten, und ich bin froh, mit Lena, Dirk, Martin, Tobias, und Uwe den direkten Heimweg antreten zu können. Rasant fällt das Val Chisone hier Richtung Fenestrelle ab. Beeindruckend versperrt das Forte di Fenestrelle den Talausgang. Es geht immer weiter, immer weiter bergab. Bis wir in Villar Perosa nach links abbiegen und noch einmal über den linksseitigen Bergriegel springen, der hier immerhin noch 400 Meter aufragt. Der
Colle Pra Martino entpuppt sich als steil aber fair und dicht bewaldet, und so können wir der drückenden Hitze im Tal für einige Zeit entfliehen. Die äußerst steile Abfahrt führt uns hinunter nach Pinerolo, einer größeren Stadt am Ausgang des Chisone-Tals. Ein Hotel für diese Reise haben wir dort nicht gefunden, aber eine gezielte Suche führt uns schnell zur Gelateria, wo wir uns mit Caffè und Eis erwöhnen lassen. Italien!
Nun sind es nur noch 8,5 Kilometer bis in unser sehr schönes Hotel mit Pool. Gut, dass wir heute morgen losgefahren sind! Nach einem erneut üppigen Mahl gibt es die Italienisch-Lektion für heute: Tiramisu. Auf deutsch "zieh mich hoch"! Hoffentlich morgen voller Leichtigkeit bestens asphaltiert zur Po-Quelle am
Pian del Re!
So wollte Tom uns die Etappe schmackhaft machen:
Vor der Toren Turins, in Avigliana, starten wir unsere Rundfahrt durch die Cottischen Alpen, bei der wir zwei Mal den Alpenhauptkamm zwischen Italien und Frankreich überqueren. Gleich am ersten Tag gibt es dabei ein echtes Giro-Monument! HIer wagen wir uns an ein Novum auf quäldich-Reisen: eine nicht-asphaltierte Auffahrt auf Naturstraße. Der Giro d'Italia hat den Colle delle Finestre bekannt gemacht, und die spektakuläre Überfahrt auf der Naturstraße hat beim Profirennen den gewünschten Effekt erzielt und schöne ungewöhnliche Bilder geliefert. Dabei darf man jedoch auch nicht vergessen: Es ist auch ein schöner Pass, und wenn man schonmal in Susa ist... warum nicht? Die Abfahrt auf der Südseite ist dann wieder asphaltiert, und anschließend können wir den Rest der Etappe entpannt nach Cantalupo bei Pinerolo fahren.