31.03.2023,
majortom:
"Heute fahren wir die zweite Königsetappe in die Cinque Terre." Eine Aussage von Reiseleiter @
Jan, die zumindest bei den Teilnehmer*innen der entspannten Gruppe für leichtes Stirnrunzeln sorgt. Ist es denn nicht gerade die Defintion von "Königsetappe", dass es davon nur eine gibt, nämlich die längste, schwerste und prestigeträchtigste? Leistet sich denn die Tour de France neben dem obligatorischen Gemetzel hinauf nach Alpe d'Huez (nachdem bereits zuvor zwei
hors catégorie-Pässe befahren wurden) denn noch eine zweite Königsetappe? Es kann schließlich auch nur einen König geben...
Völlig egal, sagt Jan. Bei quäldich machen wir unsere eigenen Regeln. In einer Woche Saisonauftakt in Chiavari muss man drei Dinge mitgemacht haben: die erste Königsetappe über den
Passo del Tomarlo tief hinein ins Hinterland des Apennin (sensationell!), das Arbeiteressen
pranzo di lavoro (mittags, mit Primo, Secondo, Vino und Caffè; vermutlich an beliebiger Stelle, hier konkret aber in Montebruno zwischen
Passo di Portello und
Valico di Barbagelata – pranziös!) und die zweite Königsetappe in die zwar massentouristisch erschlossenen, aber deswegen nicht minder schönen Cinque Terre. Die ersten beiden Punkte haben wir abgehakt, aber die Cinque-Terre-Liste fehlt uns noch auf unserer ligurischen
bucket list. Und so wurden unsere Teilnehmer*innen gestern mit der Aussicht auf einen erneuten Husarenritt konfrontiert. Wie jetzt – schon wieder 135 km mit 2700 Hm?
Man kann vieles über die entspannte Gruppe unserer diesjährigen Chiavari-Woche sagen (natürlich nur gutes), aber nicht, dass sie nicht ihrem Guide vertrauen wurde. Schon die erste Königsetappe zum Tomarlo wurde der Gruppe untergejubelt, indem Jan beim zuständigen Guide nachgefragt hat: "Schaffen das deine Mädels und Jungs?" Was der zuständige Guide – in Personalunion auch der Autor dieses Berichts – natürlich sofort bestätigt hat. Natürlich schaffen die das. Das Vertrauen beruht auf Gegenseitigkeit. Der Guide vertraut seiner Gruppe. Die Gruppe vertraut dem Guide. Und macht (wenn auch nicht ganz ohne zaghaften Widerspruch) alles mit. Danke dafür. Danke für euer Vertrauen. Die wunderschöne Tomarlo-Etappe mit Jahrhundertsicht in die Cottischen Alpen hat hoffentlich das gegenseitige Vertrauen gelohnt. Und heute wird es genauso sein.
Womit wir beim Guide und Berichterstatter wären, der pünktlich um 8.30 Uhr seine Gruppe aus Chiavari hinaus führt. In gemächlichem, in entspanntem Tempo natürlich, denn wir haben viel vor uns. Ganze zwölf Jahre ist es her, dass ich das letzte Mal hier war. Lustigerweise haben wir erst im Laufe der Woche rekonstruiert, dass auch Hans-Dieter* damals schon von der Partie war und nun nach einer zwölfjährigen quäldich-Pause wieder hochmotiviert am Start steht. Beziehungsweise eben nicht, denn er gehört zur Splittergruppe, die lieber mit dem Zug nach Monterosso abkürzt und erst zur Mittagspause im Cinque-Terre-Dorf Vernazza zu uns stößt. Erodiert hier etwa das gegenseitige Vertrauen? Ganz und gar nicht. Eher eine Vernunftentscheidung nach schon fünf mehr oder weniger harten, ereignisreichen, wunderschönen Tagen hier im ligurischen Apennin!
Wie dem auch sei. Wir cruisen heute ohne Panoramastraße nach Sestri Levante; die zusätzlichen Höhenmeter hätten den ambitionierten Rahmen der Etappe wohl gesprengt. Durchs Val Petronio halten wir auf den
Passo della Mola zu, der sich vor allem durch den Stuhl auszeichnet, den Susanne an einer Bushaltestelle findet und sogleich nutzt, um sich in entspannter Fasson als humanen Wegweiser an der letzten, nicht-intuitiven Abzweigung zu postieren. Eine lange Abfahrt, eine rumpelige Talpassage, ein Nupsi, ein weiterer Anstieg, und wir stehen auf dem
Passo di Termine, wo die Höhenstraße oberhalb der Cinque Terre abzweigt.
Apropos 2011, tief in meinem Langzeitgedächtnis schlummern Erinnerungen an eben jene Etappe, die wir damals auch schon gefahren sind, allerdings ohne Cinque Terre-Abstecher. Was – wie schon der erste Kilometer auf der Höhenstraße zeigt – wohl ein grober Fehler war. Etwa 500 Höhenmeter unter uns das Mittelmeer, dann auch noch Ausblicke auf das malerische Monterosso. Auf Anhieb schafft es dieser kurze Abschnitt auf meine Top-drei-Liste der europäischen Küstenstraßen. (Die quäldich-Community darf gerne fachsimpeln, welche Küstenstraßen wohl sonst noch drauf stehen...)
Dann die Abfahrt nach Vernazza. Tiefblicke auf das malerische Dorf, in die Bucht gebaut mit seinen bunten Häusern, der kleine Hafen, eine Befestigungsanlage an der Hafeneinfahrt. Fotoapparate werden gezückt. Jan hat vorgewarnt, dass unten in Vernazza der Kulturschock droht. Touristenmassen, die mit der Bahn dorthin strömen, den Ort überfluten, Fluchtreflexe auslösen. Ich finde: wir als Touristen dürfen uns nicht darüber beschweren, dass auch andere Touristen einen besonderen Ort ansteuern. Die Touristenmassen sind schließlich nicht immer nur die anderen. Ein wenig moralisch überlegen dürfen wir uns jedoch dennoch fühlen, denn nur wir mussten uns auf dem Weg dorthin über eine Straße durchschlagen, die gerade frisch asphaltiert wird. Die Bauarbeiter scheinen nichts dagegen zu haben, dass wir unsere Räder über den frischen Asphalt tragen – danke für diese doch eher gechillte Einstellung zu ihrem Werk!
Wie erwartet: wir sind nicht die einzigen Touristen dort. Schön ist es trotzdem, die Mittagspause mit Focaccia und Panini direkt oberhalb der anbrandenden Wogen auf dem kleinen Platz an der Bucht zu machen. Es halt sich gelohnt. Telefonisch berichtet Jan von der mörderisch steilen Alternativroute zur Asphaltierungsbaustelle, so dass wir recht schnell Einigkeit herstellen: Wir schmuggeln uns einfach nochmal durch die Baustelle. Was mit einem traumhaften Anstieg zurück zur Höhenstraße belohnt wird.
Der Rückweg wird dann ein wenig zäh. Liegt wohl (wer hätte das gedacht) an der Königsetappe. Der zweiten Königsetappe und den schwindenden Kräften. Abfahrt nach Levanto. Und wieder rauf zum mit vom Reiseleiter mit großen Vorschusslorbeeren bedachten Pantani-Brunnen. Es stellt sich leider heraus: der lokale Rennradclub hatte leider keine rosa Farbe mehr, um ihn neu zu streichen und hat sich stattdessen für einen undefinierbaren hautfarbenen Farbton entschieden. Das Wasser gibt trotzdem neue Kraft. Wir warten noch ein wenig, bis Jasper* wirklich alle mitgebrachten Klamotten aus seinem Rucksack für die Abfahrt angelegt hat, dann geht es über eine schöne Kammstraße zum
Passo del Bracco an der Via Aurelia und in die noch nicht ganz asphaltierte bis frisch asphaltierte Abfahrt nach Sestri Levante. Wo sich der Kreis der zweiten Königsetappe schließt. Und wir euphorisiert und glücklich nach Chiavari zurückrollen.
Anschließend durfte erneut Luchin seine Kochküste zeigen. Farinata, Pesto-Trofie, Fleischmassaker, Kastanienkuchen. Fünftes Königsabendessen nach der zweiten Königsetappe.
*Name von der Redaktion geändert