14.06.2022,
majortom:
"Ich könnte auf einer Grillparty sein. Stattdessen quetsche ich den Fedaia hoch." Solche oder ähnliche Gedanken unterstelle ich einfach mal dem kompletten quäldich-Ensemble, das heute aus dem trentinesischen Skiort San Martino di Castrozza bis ins Herz der Dolomiten nach Canazei vorgedrungen ist. "Wer hat Angst vor dem Fedaia?", habe ich gestern bei der Etappenvorstellung gefragt, und bis auf ein bis zwei zaghaft gehobene Hände traute sich niemand. Also machen wir es heute einfach. Der Fedaia ist ja berüchtigt für die hohen Geschwindigkeiten, die man bei der Abfahrt erzielen kann, aufgrund des hohen Gefälles. Also erwarten wir heute in Gegenrichtung niedrige Geschwindigkeiten, aufgrund der hohen Steigung.
Der Reihe nach: Zunächst lösen wir den Coitus interruptus auf, den wir am gestrigen Tag fabriziert haben. Wir haben die Südanfahrt zum
Passo Rolle nämlich einfach in San Martino abgebrochen und haben die Auffahrt so ganz dreist zweigeteilt. Aber gestern war das Programm natürlich auch in der interruptierten Variante ausreichend, und so machen wir uns heute auf die noch fehlenden neun Kilometer zum Passo Rolle. War die Auffahrt bisher eher unspektakulär, so enthüllen sich heute die umgebenden Dolomitengipfel mehr und mehr ihres verschämten Wolkenkleides, und bei erneut strahlendem Sonnenschein können wir die Ausblicke auf die Felswände, die uns umgeben, genießen. Ein Traum. So die einhellige Meinung an der Passhöhe. In der Abfahrt verfehlen wir natürlich die Abzweigung in den
Passo di Valles nicht, und kurze Zeit darauf stehen wir auf unserem zweiten Pass für heute. Wo wir gleichzeitig auch die Grenze vom Trentino ins Veneto überschreiten.
Lange Abfahrt inklusive recht abenteuerlicher Tunnelumfahrung, ein paar Kilometer das Tal rauf, und Sylvia erwartet uns mit Griechischem Salat und der vom Frühstücksbuffet abgestaubten Salami am Ufer des Lago di Alleghe in Massarè. Der kein Stausee, sondern ein durch einen Bergsturz entstandener natürlicher See ist, wie Italien-Kulturattaché @
Lothar63 uns bereits gestern Abend erklärt hat. Da die sportive Gruppe erst bei unserem Eintreffen die Flucht ergreift, machen wir es uns natürlich für eine Weile auf den Bänken mit Seeblick gemütlich und verdrängen mehr oder weniger erfolgreich alle Gedanken an den noch vor uns liegenden Fedaiapass.
Recht Flache Anfahrt mit Rückenwind bis Caprile, und dann sind wir mittendrin in der Auffahrt zum
Passo Fedaia. Der relativ harmlos anfängt. Die Geschichten von der rennentscheidenden Etappe des diesjährigen Giro d'Italia hat natürlich die Runde gemacht. Zunehmend nervös nehmen wir zur Kenntnis, wie laut Garmin die noch bevorstehende Durchschnittssteigung von 7 auf 11 Prozent ansteigt. Die berüchtigte Rampe liegt nämlich noch vor uns, und es gilt definitiv die gern zitierte Weisheit von @
hagen306: "Der Anstieg ist steil. Dafür ist er aber auch nicht so kurz." Auf der Habenseite: wir sind schon auf ca. 1500 m Höhe, und es ist trotz Südhang bei weitem nicht so heiß wie befürchtet. (Dafür ist es aber auch so steil wie befürchtet.)
Die Gerade ist mörderisch. Trotzdem quetschen wir irgendwie hoch. Die folgenden Serpentinen täuschen. Kurzzeitig flacht die Steigung ab, dann wird es wieder steil. Wir zählen die letzten Kilometer runter. Ein pfeifendes Murmeltier 20 Meter neben der Straße lässt ein wenig Disneyland-Stimmung aufkommen. Und schließlich sind wir oben, mit Blicken auf den Marmolada-Gletscher, wie versprochen. Ein hartes Stück Arbeit. Und dennoch sind natürlich alle glücklich. Die Kaffeepause am anderen Ufer des Stausees (mit zwei Staumauern, wie @
Lothar63 zu berichten weiß) ist wohlverdient.
Somit steht eigentlich nur noch die Abfahrt nach Canazei auf dem Programm. Die Hotel-Terrasse grüßt. Dort angekommen will Sylvia uns schon den Zahlencode für die Radgarage zurufen, doch das Tageswerk zumindest einer Splittergruppe ist noch nicht beendet. Denn dummerweise habe ich (nach entsprechenden enthusiastischen Hinweisen von @
tortentom) das
Rifugio Gardeccia als traumhafte Stichstraße in das Rosengarten-Massiv angekündigt und damit allerlei Mitfahrer heiß gemacht. Und auch ich selbst will mir diese Auffahrt auf keine Fall entgehen lassen.
Wir machen es kurz: der Fedaia ist Kinderfasching dagegen. Dankenswerterweise sind hier jeden Kilometer Schilder aufgestellt, die die Durchschnittssteigung auf dem folgenden Kilometer angeben. Auf den ersten fünf Kilometern lernen wir, dass zehn Prozent im Schnitt auf einen ständigen Wechsel zwischen acht und 16 Prozent bedeuten kann. Auf dem letzten Kilometer wird dann allerdings 13,7 Prozent angegeben. Die in einer endlosen Rampe von 16 bis 17 Prozent kulminieren. "Tom sah nicht glücklich aus, als er oben angekommen ist", erzählt Oliver am Abend nach der Etappe. Dabei war er glücklich, konnte es in dem Moment nur nicht so ganz zeigen. Und wenn man dann mal die Muse hat, das herrliche Dolomitenpanorama zu betrachten, kann man gar nicht mehr unglücklich sein. Leider hat es sich gelohnt, und wir können uns nicht mal mehr darauf berufen, dass das ganze Unterfangen von vornherein ein Himmelfahrtskommando war.
Zusammengefasst: ein traumhafter Tag den Dolomiten mit strahlendem Sonnenschein von morgens bis abends, wunderschönen Pässen - und hin und wieder halt auch mal einem etwas steileren Abschnitt...