04.05.2023,
majortom:
Everesting kann jeder. Wir machen heute Coldeturining. Statt des höchsten Gipfels der Erde wählen wir uns heute einfach den höchsten Pass der Voralpen von Nizza. Und fahren die Höhenmeteranzahl des Col de Turini. Am selben Pass. So oft hoch und runter, bis man die Höhe erreicht hat. Was am Col de Turini bedeutet: einmal rauf, wenn man auf Meereshöhe startet. Was wir in Saint-Laurent-du-Var ja gewissermaßen machen. Das Var-Tal rauf, dann das Vésubie-Tal rauf, und dann auf den Pass. Fertig ist das Coldeturining.
Beim Col de Turini handelt es sich nicht nur um den höchsten, sondern auch um den bekanntesten und prestigeträchtigsten Pass der Region. Warum eigentlich? Wenn der Name des Passes fällt, kommt die Sprache immer relativ schnell auf die Rallye Monte Carlo. Und Motorsport und Rennradfahren schließen sich ja eigentlich gegenseitig aus. Glücklicherweise hat sich auch der Radsport in den letzten Jahren und Jahrzehnten seine Anteile am Col de Turini erworben. Nicht zuletzt durch die Bergetappe beim
Grand Départ der Tour de France 2020 in Nizza. Eine Etappe, die auch die längere Variante unserer heutigen Tour inspiriert hat - über
Col Saint-Martin und
Col de Turini im Double. Die ausdauernde Gruppe möchte sogar noch einen drauf setzen und die komplette Tour-Etappe nachfahren, inklusive der abschließenden Schleife über den
Col d'Èze. Obwohl wir den schon kennen. Aber schließlich beginnen viele legendäre Geschichten mit einem "Hast du sie noch alle?"
Wie dem auch sei: in der entspannten Gruppe backen wir kleinere Brötchen. Rauf. Runter. Zum Col de Turini und zurück. Das soll reichen. Keine Königsetappe. Aber immerhin eine Etappe mit Königspass. Wir starten wieder bei frühsommerlichen Bedingungen. Es ist warm, kurz/kurz-Wetter, keine Wolke am Himmel. Mit der gewohnten Souveränität manövriert uns Mark an der Spitze auf die Radautobahn im Var-Tal. Vormittag bedeutet ablandigen Wind, also Gegenwind. Mal wieder. Dennoch cruisen wir gemütlich und hochmotiviert das mittelmäßig pittoreske Tal hinauf. Genießen beim U-Turn-Manöver auf der anderen Flussseite kurzzeitig den Rückenwind. Und staunen gleich darauf über die Vésubie-Schlucht, die uns mit kalten Temperaturen und steil abfallenden Felswänden empfängt. Vor ein paar Tagen haben wir die Schlucht noch vom
Le Saut des Français von oben bestaunt.
Etwa fünfzig Kilometer sind wir gefahren, dann kommen erste Rufe nach einer Pinkelpause auf. Trifft sich gut, denn kurz darauf wollten wir sowieso Mittagspause in Lantosque machen. Beim eingeplanten Bäcker eine Schrecksekunde: die Rolländen sind runtergelassen, und ein an der Tür klebender Zettel informiert uns, dass aufgrund von Personalmangel und Kinderbetreuung heute leider geschlossen ist. Doch ein freundlicher Passant verweist uns gleich zum Mitbewerber ein paar Häuser weiter. Wo es auch leckere Tourte aux blettes (diesmal die süße Variante) gibt, und die benachbarte Bar uns auch gleich mit Café versorgt. Schöne Mittagspause in Lantosque.
Gnädigerweise haben wir danach noch zwei bis drei Kilometer Einrollphase eingebaut, bis es in die Passauffahrt geht. 1100 Höhenmeter am Stück zum Col de Turini. Auf 15 km. Die bekannte Westauffahrt. Der Respekt ist groß. Der österreichische Tom fährt uns gleich davon, als Relaisstation für den ebenfalls hochmotivierten Mark, dem der Mangoldkuchen gut zu bekommen scheint. Auch die entspannte Gruppe ist im Tourfieber. Wir genießen die ersten Kilometer bis in das schön am Hang gebaute Bollène-Vésubie. Regelmäßige Steigung, schöne Aussicht zurück ins Tal, jeder findet seinen Rhythmus. Nach oben hin wird der Wald immer dichter; ein Zeichen dafür, dass der Turini auch oft mal in den Wolken hängt und die Feuchtigkeit vom Mittelmeer sich hier abregnet. Es wird zäh auf den letzten Kilometern. Für alle ist es die bislang längste Passauffahrt des Jahres.
Und dann stehen wir oben. 1607 m Höhe. Coldeturining: Haken dran! Was für ein erhebendes Gefühl. Kühl ist es hier oben, und wir ziehen uns für eine Weile in das Hotel-Restaurant zurück auf einen Cappuccino, Tee oder ein Cola. Die Hälfte der Etappe ist geschafft. Aber fast schon alle Höhenmeter. Ein gutes Gefühl. Also geht es zurück zur Küste nun praktisch nur noch bergab. Eine lange Abfahrt. In dem Abschnitt zwischen
Baisse de la Cabanette und Lucéram vermisse ich plötzlich die Gruppe hinter mir, sehe sie dann zwei Kehren weiter oben. Wolfgang dirigiert dort alle zum perfekten Fotomotiv. Wahrscheinlich schreibt Sandra in Gedanken schon die Werbetexte dazu. Der Serpentinenhang ist aber auch sagenhaft - für viele das absolute Highlight der heutigen Etappe.
Dann hätten wir nur noch zurück nach Hause fahren wollen. Hätte, hätte, Fahrradkette - leider im wahrsten Sinne des Wortes. Das Exemplar von Sandra hat sich auf skurrile Art und Weise um den Umwerfer gewickelt. Ratlose Gesichter. Bis Tom (nicht ich) vorschlägt, den Umwerfer zu lösen und so die Kette zu entwirren. Funktioniert erstaunlich gut. "Ich bin halt gut in analytischem Denken", sagt Tom stolz.
"Was ist eine Socca?" fragt er dann etwa 10 Kilometer später, als wir schon längst in Nizza angelangt sind, und ich vorschlage, diesen lokaltypischen Snack noch in die Etappendramaturgie einzubauen, als letzte Pause vor dem Schmutzbier gewissermaßen. Es ist ein im Holzfeuer gebackener Kichererbsen-Fladen, und neben der Pissaladière der zweite Auf-die-Hand-Signature-Dish der nizzaischen Küche, der uns auch bei René Socca nur unweit des Track-Verlaufs in schöner Atmosphäre serviert wird. Sensationell.
Und dann nur noch die Promenade entlang in die Strandbar, wo heute ausnahmsweise mal wir auf die Ankunft der anderen Gruppen warten.