Natürlich knien wir alle ehrfürchtig nieder vor dem quäldich-Kalender 2023. Tolle Bilder, tolle Stories. Doch gibt er schändlicherweise keinen Verweis darauf, welches Pass-Türchen denn nun wann zu öffnen ist, gerade jetzt zur Weihnachtszeit. Unsere Spanienfraktion schließt diese unverzeihliche Lücke gefährlichen Halbwissens und öffnet ab heute in loser Folge bis zum Feste ein klassisches oder auch HC (Hidden Champion)-Türchen zur spanischen Bergwelt. Denn eins ist klar: Wahre quäldich-Passjäger:innen gieren nach oder neben all den Standards der Alpen oder Pyrenäen nach den andalusischen, baskischen und kantabrischen Perlen. Nach Spanien, wo Rennradfahren Volkssport ist.
Öffnen wir also unser erstes Türchen: Die Haza del Lino hoch oben auf der Sierra de Contraviesa in Andalusien. Eigentlich ein ganzes Türensortiment, denn alle Wege führen zur Haza – oder so ähnlich hieß das doch… Ausreichend abgelegen vom Warmwasser- und Mietwagentourismus an den Stränden der Costa Tropical, haben wir mindestens 5 Optionen, uns von Meeresspiegelniveau bis auf 1280m hinaufzuschrauben. Man munkelt, dass auch die Gründerwirte des Ausflugslokals oben am Pass passionierte Rennradfahrer seien und genau deshalb dort, wo alle Anstiege zusammenlaufen, ihr Lokal platziert haben. Das menú böte genügend Varianz für 5 Pausen an 5 Tagen, doch meist bleiben wir doch beim bocata (auf hochspanisch: bocadillo = belegtes Brot), sopa de picadillo (die „Allerlei“-Suppe) und café con leche (die Gewichtsbewussten nehmen nur einen cortado). Ebenso erklärt nur die Radsportaffinität der Betreiber, dass sie Alufolie bereithalten, sollte man an einem kühlen Tag doch einmal die Überschuhe für die Abfahrt vergessen haben (@Andi – verzeih mir, es war halt ein großer Moment 😉). Beste Reisezeit (so meinen wir jedenfalls): März und Oktober. Aber nun doch zum Wesentlichen: den Anstiegen.
Polopos – Formation Schildkröte im Kehrennirvana. Wenn wir Glück haben (und das haben wir an ca. 363 Tagen im Jahr), ist dieser Anstieg frei von der Guardia Civil. Denn meistens kommt es hier ungewollt zur „Haufenbildung“ im Peloton, und das trotz des zunächst etwas steileren Anstiegs. Warum? Die Straße umkurvt in phänomenalen Kehren die Bergnasen, der Blick zum Mittelmeer ist unverstellt. Gnädig verzeihen wir der spanischen Landwirtschaft und den mitteleuropäischen Verbrauchern die plásticos (Gewächshäuser) im unteren Teil, denn sie sind bald verschwunden. Wir sind allein mit uns, dem Berg und unseren Beinen. Fast verpassen wir den Abzweig in Polopos nach links rauf zur Haza, doch der Garmin piept unerbittlich etwas von „Streckenabweichung“, also sind wir mal nicht so… schließlich warten auf der korrekten Strecke ja noch ein paar letzte Prozente.
Albunol und Albondón – Freudenseufzer an den sanften Klassikern: 5% im Schnitt, jeweils 20km Steigung, 80er Frequenz. Mandelblüte im Frühjar, Sonnenreich, windgeschützt. Gleicher Verlauf von La Rábita am Mittelmeer bis Albunol, danach direkt und kurvig zur Haza oder über Albondón und wellenreitenderweise auf dem Bergkamm auf 1200m Höhe zum Pausenpunkt. Beide Anstiege sind übrigens nur echt mit dem Original-Seufzer: „Aaach…“ – „Was ist los, alles in Ordnung?“ – „Ja, aber man braucht so wenig, um glücklich zu sein.“
La Cara norte desde Órgiva – der hidden champion. Ist Polopos schon ruhig, so wird es hier nach den ersten 6km wirklich still. Weht uns zunächst noch leichter Grasduft im Aussteigerdorf Órgiva um die Nasen, werden Luft und Kopf kurz nach Querung des guadalfeo (ja, der „hässliche Fluss“) wieder klar. Viel ist zu der kleinen Straße nicht zu sagen: Mandel- und Obstblüte im Frühjahr, mächtige Felswände im Mittelteil und wirklich die ganze Zeit die majestätische Sierra Nevada in unserem Rücken, im Frühjahr voller Schnee, im Herbst sehen wir die „Haifischflosse“ des Veleta dunkel und ganz oben aufragen (ja, man kann da auch rauf mit dem Rennrad auf 3396m, aber dazu ein andernmal mehr). Eigentlich verpönen wir ja Rückspiegel am Rennrad, aber hier wären sie wirklich angebracht. Ein Tag der Schönheit. Oben kurz vor oder an der Haza dürfen wir dann Abfahrtsroulette spielen: Welches Sahnestück brettern wir heute hinab ans Mittelmeer?
Rubite – oder: das Gold ist endlich schwarz: Wer es hart und finster mag, für den haben wir den strammen Anstieg von Castell del Ferro kürzlich neu asphaltieren lassen. Von Genuss sprechen hier eigentlich nur Sadisten – lange Zeit auf seinen 16km schmiegt er sich mit lieblichen 9-12% an den Hang. Wegen der besseren Übersichtlichkeit auch weitgehend ohne Kurven. Was umgekehrt natürlich die Abfahrt vergoldet. Dafür wird es oberhalb des namengebenden Bergdorfs auf den letzten Bergauf-km wirklich majestätisch: Kehre um Kehre zwirbeln wir uns hinauf bis auf den Bergkamm. Kurz überlegen wir, dass man auch noch nach Osten ganz rauf auf die Sierra de Lújar könnte, aber mit Blick auf die drohenden Schönwetterwolken schenken wir uns das Extra und kullern weiter zur Haza.
Sorvilán – die Trendauffahrt: Natürlich sind wir auch im Vor-Gravel-Zeitalter diese Auffahrt schon auf 23er Reifen gefahren (denn das geht, auch wenn es dem Insta-Biker von heute mit olive-erdfarbenem Outfit und Stollenreifen unmöglich erscheinen mag). Die wahren Heldentaten liegen in dieser Auffahrt nämlich nicht in den 1,5km Schotter (auf 20km Anstieg), sondern dem giftigen Einstieg ab Los Yesos: Unscheinbar geht es steil, etwas holprig auf altem Beton die ersten 2km vom Mittelmeer hinauf. Erst nach der Querung der Autobahn hat die Steigung ein Einsehen, wir schottern ein wenig, versöhnlich flache 10% erwarten uns im Anschluss - verkehrsfrei. Wir passieren das namengebende Dörfchen, schalten ein, zwei Gänge rauf, denn irgendwann hat die Steigung wieder Plauderniveau. Streifen die Ärmlinge ab, die Sonne meint es gut. Leeren die Bidons, denn zur Haza ist es nicht mehr weit und oben schwelgen wir hinüber zur Sierra Nevada...