Herlich willkommen in den Seealpen - Bienvienue aux Alpes Maritimes. Wir nehmen den Staffelstab der Berichterstattung wieder auf und berichten vom Bergtraining in den Seealpen rund um die Riviera-Metropole Nizza. Gerne hätten wir uns auch schon gestern zu Wort gemeldet, aber der Prolog fiel im wahrsten Sinne des Wortes ins Wasser. Starkregen den ganzen Nachmittag und Abend über. Zum Glück konnten wir das mit einem Lächeln zur Kenntnis nehmen, verheißt uns doch die Wettervorhersage trockenes und sonniges Wetter für den kompletten Rest der Woche. Ein paar Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die bereits am Vorabend angereist waren, sind die Prolog-Runde nach Grasse auch bei noch besserem Wetter schon am Vormittag gefahren.
Nun also der zweite Tag. Neues Spiel, neues Glück. Als beim Frühstück noch ein Regenschauer runterkommt, werden bereits die ersten Fragen nach einer Verschiebung des Starts gestellt, doch die Reiseleitung bleibt hart und verspricht nach einem Blick auf den Regenradar einen trockenen Start wie geplant um neun Uhr. Was dann auch so eintritt. Wir verteilen noch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die drei Gruppen, und dann geht es los. Auf dem Radweg am Flughafen vorbei und dann entlang der kompletten Promenade des Anglais quer durch Nizza. Bewusst haben wir diesen Programmpunkt auf den Sonntag Vormittag gelegt, wo die meisten Touristen noch beim Brunch sitzen und wir freie Bahn haben. Ampelfrei cruisen wir also die Promenade entlang, direkt rechts von uns brandet das türkisblaue Mittelmeer an. Ein Traum.
Drei übereinander geschachtelte Küstenstraßen -
corniches genannt - verbinden Nizza mit Menton. Von der Basse Corniche klettern wir also über die Moyenne Corniche hinauf zum Col des Quatre Chemins an der Grande Corniche, der höchstgelegenen der drei Straßen. Die uns wunschgemäß auch sensationelle Blicke hinab in die Buchten erlaubt. So bezwingen wir die ersten Höhenmeter zum
Col d'Èze, bekannt als traditioneller Scharfrichter der Schlussetappe des Profirennens Paris-Nizza, aber auch Teil des
Grand Départ der Tour de France in Nizza 2020.
Kurz darauf verlassen wir dann die Küstenzone und halten auf den
Col de Saint-Pancrace zu. Der zumindest für die Gruppen sportiv und ausdauernd aber auch nur der Aufgalopp zum bekannteren
Col de la Madone ist, als Lance Armstrongs bevorzugter Trainingberg auch Namensgeber für ein Modell seines bevorzugten Radherstellers. Wir erfreuen uns vor allem an den Tiefblicken, die wir in der Abfahrt hinunter nach Menton haben. Zwei Buchten weiter sehen wir (vermutlich) schon Ventimiglia jenseits der Grenze nach Italien.
Gemeinsam mit der sportiven Gruppe gehen wir Ausdauernden dann die Forststraße an, die uns vom Madone hinunter nach L'Escarène führen soll. Aufgrund des gestrigen Starkregens ist sie zwar stark verschmutzt, lässt sich aber - mit Ausnahme des leider in Auflösung begriffenen Schlussteils der Abfahrt - sehr gut fahren. Inzwischen sind wir in der völlige Einsamkeit der Seealpen angekommen. Kaum zu glauben, dass sich nur einen Steinwurf entfernt von uns die quirlige Riviera mit den mondänen Badeorten befindet.
In L'Escarène kurzes Rendezvous mit Susanne aus der entspannten Gruppe. Sie hat einen Platten an einer Hochprofilfelge zu versorgen, die selbst für unsere Ersatzschläuche mit langem Ventil zu hoch ist, übernimmt tapfer einen Schlauch aus meinem Vorrat und macht sich dann daran, ihre Schützlinge per Autostopp die Abfahrt hinunter zu dirigieren. Der Retter ist schließlich - nach vergeblichen Versuchen von Caleb Ewan und Teamkollegen - der Präsident des monegassischen Radsportverbandes. Meine Gruppe dirigiere ich erstmal zur dringend benötigten Kalorienaufnahme in eine Bäckerei. Eine weise Entscheidung, wie sich schon bald herausstellt, denn die Brasserie auf dem
Col de Braus hat zwar geöffnet, aber heute eine geschlossene Gesellschaft, von der leider nicht mal ein paar Brotkrumen für unsere nach Kalorien lechzenden Gruppen eins und drei übrig bleiben. Ein wenig habe ich schon ein schlechtes Gewissen, nachdem wir beim Bäcker pompös geschlemmt haben, und mir am Telefon noch voller Optimismus berichtet wird "Wir fahren einfach weiter bis ins nächste Dorf." Wie sich später herausstellen soll (und ich zu diesem Zeitpunkt bereits befürchte), ist das nächste Dorf schon wieder in der finalen Abfahrt nach Nizza. Also hoffe ich, dass in den betroffenen Gruppen alle vorhandenen Riegel brüderlich geteilt werden...
Wir machen uns gleichzeitig erstmal an den
Col de Braus, den ich aufgrund des Serpentinenhangs in offenem Gelände mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht habe. Davon war aber keine Vorschusslorbeere zuviel. Trotz der aufziehenden Wolken genießen wir die herrlichen Ausblicke, und auch die insgesamt ca. 650 Höhenmeter können uns nicht schocken - mit stoischem Tritt kurbeln wir hinauf zur zwar offenen, aber uns nicht mit offenen Armen empfangenen Brasserie.
Es geht weiter berauf vom Col de Braus, auf einer Straße, die eigentlich noch Wintersperre hat, zum Col de l'Ablé und wieder hinab zum Pas de l'Escous. Von hier aus wollen wir weiter hinauf auf die Turini-Höhenstraße, wobei wir uns den
Col de Turini selbst noch für eine spätere Etappe aufsparen - heute würde er trotz unserer grenzenlosen Seealpen-Euphorie wohl den Rahmen sprengen. Zumal die Wolken tief hängen - oder vielmehr sind wir inzwischen einfach so weit oben, dass wir in die Wolkendecke eintauchen. Im Nebel können wir leider nur erahnen, was für spektakuläre Ausblicke wir im Serpentinenhang eigentlich hätten.
Dann stehen wir am höchsten Punkt der Etappe. Etwa 1350 m hoch. Heißt: bis zum Hotel in Saint-Laurent-du-Var müssen wir noch ca. 1350 Höhenmeter vernichten. Wir kramen alles raus, was die Rucksäcke und Taschen hergeben, dann tasten wir uns durch den Nebel hinunter. Schon bald lassen wir die Wolken hinter uns, und die begeisterten Laute sowie Fotostopps häufen sich wieder.
Bis Contes habe ich die Abfahrt freigegeben. Schon im Ort davor sammeln wir die anderen Gruppen ein, die hier endlich ihre wohlverdiente Nahrung gefunden haben. Die Laune ist - immer noch oder nun wieder - bei allen gut. Wir müssen also nur noch weiter das Tal hinuter, uns ein wenig durch den Großstadtdschungel mogeln, bis wir schließlich wieder auf den Radweg parallel zum Autoverkehr dahin cruisen können. Schließlich ist wieder die Promenade des Anglais erreicht, und die restlichen Kilometer als große Hybridgruppe sind dann wieder der reine Genuss.
Ein sensationelles Rennradrevier sind sie, die Seealpen, das können wir schon nach dem ersten Tag sagen. Warum sind wir eigentlich erst dieses Jahr das erste Mal hier?
Ursprüngliche Etappenbeschreibung:
Bevor wir das einsame Hinterland der Côte d'Azur kennenlernen, bleiben wir zunächst noch an der traumhaft schönen Küste und fahren über die Haute Corniche, die fantastische Tiefblicke auf das Meer ermöglicht. Der Col d'Eze, höchster Punkt der Corniche, ist auch vom Profirennen Paris-Nizza als Scharfrichter auf der Schlussetappe bekannt. Für uns geht es jedoch noch wesentlich höher hinaus. Über den Col de St. Pancrace dringen wir ins Hinterland vor, dann folgt die Serpentinenauffahrt auf den Col de Braus. Dieser geht direkt in den Col de l'Ablé über, und anschließend erklimmen wir einen Teil der Südanfahrt zum mythischen Col de Turini. Den Col Saint Roch und den Col Savel passieren wir dann nur noch auf einer langen Abfahrt zurück nach Nizza.