Heute morgen wache ich auf in Alpe d'Huez... und kein Geräusch eines Regentropfens dringt an mein Ohr. Es ist trocken, und der Wetterbericht bringt die Verheißung auf mehr Trockenheit über den ganzen Tag! Also runter zum Frühstück, das nicht ganz mit den sonstigen Bemühungen des Betreiberpaares mithalten kann. Aber sie haben das Briefing gelesen, und es gibt Kaffee aus Kannen statt ellenlanger Schlangen am Kaffeeautomat!
Es ist noch frisch beim Start, und Thilo opfert sich bzw. seinen Reifen, damit wir Natascha etwas Vorsprung gewähren können. Sie wird am Ende der Abfahrt auf uns warten, und unsere 1-7 Schichten Kleidung aufnehmen, damit wir unbeschwert Richtung Croix de Fer auffahren können. Die Nebelschwaden tauchen die Auffahrt nach Alpe d'Huez wieder in stimmungsvolles Licht, nur deutlich heller, deutlich freundlicher als gestern.
Am Pas de la Confession betrachten wir andächtig das Oisans tief unter uns und stürzen uns in die rasante Abfahrt. Nach dem Ballast-Abwurf bei Natascha beginnt dann der anspruchsvolle Anstieg auf den Croix de Fer. 1300 Höhenmeter an Differenz gilt es zu überwinden, dazu kommen noch einmal 200 Höhenmeter in zwei Zwischenabfahrten. Im unteren Bereich, noch im Wald, geht es sportlich ordentlich zur Sache.
Ich guide heute Gruppe 3, die ohne Mollard in die Maurienne fahren möchte. Das Tempo ist hoch, gar nicht entspannt. Mit wechselnden Gesprächspartnern vergeht der erste Teil des Anstiegs schnell, bevor die erste Zwischenabfahrt den steilsten Teil des Tages einläutet. Meine Beine sind viel besser als vor drei Jahren auf diesem Abschnitt, und es macht mir heute richtig Spaß. Das Steilstück flacht langsam ab und führt zum Stausee, der den schönsten Teil einläutet: ein langgezogenes, saftig grünes Hochtal führt sanft erst zum Glandon, dann weiter zum Croix de Fer. Hier macht Radfahren richtig Spaß! Natürlich lassen wir uns den Glandon nicht nehmen, biegen schnell nach links ab und posieren am Passschild.
Kurz darauf posieren wir am Passschild des Croix de Fer, und damit ist der Scharfrichter des heutigen Tages genommen! Wie schön ist das Radfahren in der Sonne, und wir alle sind uns einig, dass wir das nach dem gestrigen Vollsiff umso mehr wertschätzen können. Ebenfalls wertschätzen wir natürlich die Verpflegung, die uns Natascha am kleinen Teich unterhalb des Croix de Fer bereitet. In diesem See bin ich 1998 geschwommen, auf unserer allerersten Alpentour, der Keimzelle des ganzen quäldich-Wahnsinns.
2018, als ich nach zwanzig Jahren zu den Schauplätzen vergangener Untaten zurückkehrte, sind wir bis hier die gleiche Strecke gefahren, dann aber über den Mollard weiter. Mich interessiert heute die Hauptabfahrt nach St-Jean-de-Maurienne, die wir 1998 auch hochgefahren sind, von La Toussiere kommend, wohlgemerkt. Meine Erinnerungen sind nur noch schemenhaft, aber an die eine lange Brücke kann ich mich noch erinnern, die eine tiefe Schlucht überspannt, in die wir wiederum andächtig herab gucken. Und an den langen dunklen Tunnel, der heutzutage allerdings beleuchtet ist.Ruderschö insgesamt wunderschön!
In St-Jean verpassen wir den Abzweig zur Ortsmitte, obwohl Harry mich eindrücklich darauf hinzuweisen versucht. Schade, den Ortskern kenne ich nämlich gar nicht! Ich entscheide mich stattdessen, dem Track nach rechts zu folgen. Hier kommt aber kein Café mehr vor dem Abzweig auf die Nationalstraße, der wir 12,5 km nach St-Michel-de-Maurienne folgen. Wir folgen der Umleitung durch die Baustelle und sehen, schon auf der Nationalstraße, Gruppe 1 unter uns, die gerade ihre Abfahrt vom Mollard beendet. Großes Hallo!
Obwohl wir bis St-Michel nicht sonderlich schnell unterwegs sind, überholt uns Gruppe 1 nicht. Seltsam! Die Nationalstraße ist weniger schlimm als ich sie von 2018 in Erinnerung hab, wohl weil die Temperaturen erträglich sind. Dennoch bekommen wir einen Eindruck, wie die Sonne hier bei St-Michel drücken kann.
Thomas sucht uns mit sicherer Hand das Café l'Encas, indem wir, etwas schleppend zwar, richtig guten Café und Cola bekommen, Geißel der Menschheit und Wunderwasser des leidenden Radfahrers. Keine Spur von Gruppen 1 und 2, nur ein Anruf von Alex, wie durch die Baustelle zu fahren sei, und eine Nachricht von Christian, der seine Gruppe sucht. Damit aber haben wir nicht zu tun und starten entspannt in den Télégraphe.
Cafè und Cola haben Wunder gewirkt, nie waren meine Beine dieses Jahr so gut wie jetzt, sie wollen nach vorne. 45 Minuten später stehe ich am Passschild des Télégraphe, selten hat mir eine rein sportliche Auffahrt so viel Spaß gemacht. Auch alle anderen scheinen vom Tour-de-France-Fieber gepackt, und nacheinander rollen Julia, Robert, Bernd, Tamara, Jörg, Harry, Thomas, Jana und Christian strahlend über die Ziellinie, während Gruppen 1 und 2 endlich in St-Michel ins Café getroffen haben (die Gründe für die Verzögerung würde einen weiteren Etappenbericht füllen, erwähnt werden soll allerdings die Heldentat des Radhändlers in St-Jean, der Fabians gebrochene Schaltwerkfeder behelfsmäßig durch ein Gummiband ersetzt hat - funktionstüchtig!). Was für ein Tag!
Ursprüngliche Etappenbeschreibung
Auf 1860 m Höhe ist es morgens noch ziemlich frisch, so dass wir heute auf gutes Wetter hoffen, um gleich als erstes die Abfahrt von Alpe d'Huez in Angriff zu nehmen. Wir wählen hierfür jedoch nicht die 21-Kehren-Rampe, die wir gestern herauf gekommen sind, sondern eine kleine Nebenstrecke über Villard-Reculas, die eine schöne Panoramastraße beinhaltet - ein weiterer Beleg dafür, dass die Alpen oft da am schönsten sind, wo die Tour de France nie vorbei kommt. Direkt im Anschluss befinden wir uns im langen Anstieg zum Col de la Croix de Fer, der mit karger hochalpiner Landschaft und hübschen Seen überzeugt. Dieser Pass führt uns hinab ins Maurienne, dem savoyardischen Arc-Tal, wo wir mit einer Transitpassage talaufwärts konfrontiert werden. Von Saint-Michel-de-Maurienne ab heißt es dann wieder klettern, aber es ist ,,nur" noch der sehr schön zu fahrende Col du Télégraphe, der uns von unserem Etappenziel im Skiort Valloire trennt.