05.09.2021,
majortom:
"Pläne sind dazu da, sie über den Haufen zu werfen", ist eine Weisheit, die gerne mal bemüht wird, um Unzulänglichkeiten bei der Planung von was auch immer zu kaschieren. Tatsächlich sind es auch die ersten Worte, die ich bei der Begrüßung zur Startetappe unserer diesjährigen Montenegro-Rundfahrt verwende. Wobei der Grund dafür kein Dilettantismus unserer Planugsabteilung ist, sondern einfach offenbar, dass einem selbst bei noch so guter Vorbereitung immer etwas dazwischenfunken kann. In unserem Fall die Amtseinführung des neuen Oberhauptes der Serbisch-Orthodoxen Kirche in Montenegro, die zu gewaltsamen Protesten geführt hat, weil montenegrinische Nationalisten darin eine Provokation durch Serbien sehen, dass die Amtseinführung in Cetinje, der historischen Hauptstadt des Landes, durchgeführt werden sollte. Näheres dazu z.B. unter
tagesschau.de.
Zum Glück für uns ist von den Ausschreitungen außerhalb von Cetinje eigentlich nichts zu merken. Zum Pech für uns sollte die eigentliche Etappe jedoch über Cetinje führen. Dank der kompetenten Informationen durch unsere lokalen Partner Igor und Danilo können wir jedoch vermeiden, uns unverhofft zwischen brennenden Reifenstapeln und fliegenden Molotov-Cocktails wiederzufinden. Das ganze bedingt nur einen Plan B in Form einer Alternativroute, die Cetinje vermeidet. "Don't worry - it will also be beautiful", sagte Igor gestern. Heute wissen wir: er hatte recht.
Und so führt unsere Auftaktetappe heute nicht nach Südwesten, sondern nach Süden, am Flughafen vorbei auf den wunderschönen Skutarisee zu, den wir eigentlich erst auf der Schlussetappe in einer Woche hätten zu Gesicht bekommen sollen. Leider haben wir auf diesen Auftaktkilometern eine ungewöhnlich hohe Defektquote zu beklagen, die vor allem auf den Berichterstatter zurückgeht, der mit zwei Hinterradplatten die heutige Pannenwertung ganz klar anführt. Aber man wächst ja mit seinen Aufgaben, und zumindest beim zweiten Mal wechsle ich den Schlauch (und den Mantel) im Straßengraben sogar fast halb so schnell wie quäldich-Chef @
Jan. Der dritte Platten des Tages beschert uns dann immerhin einen Fotostopp am Skutarisee-Ufer.
Unerwartet ist durch den Etappentausch der
Poljice als erster Pass der Rundfahrt auf den Speisezettel gerückt. Etwa 500 Höhenemter auf 15 Kilometer klingen nicht nach besonders viel Arbeit, aber durch die unregelmäßige Steigung entpuppt der Pass sich doch als vergleichsweise harte Nuss. Für Platten Nummer vier des Tages haben wir uns dann immerhin einen traumhaften Aussichtspunkt oberhalb des Skutarisees ausgesucht, wo wir einen amerikanischen Pannenhelfer aus Pittsburgh, Pennsylvania gleich gratis dazu bekommen - er muss seinen Jahresurlaub in Europa leider ohne sein Rennrad und mit seiner Familie bestreiten, vermisst wohl den Straßenstaub an seinen Fingern und assistiert uns ("Do you need help?") mit Handlangerdiensten und Gratisratschlägen. Natürlich wurde er darauf hingewiesen, wer sein erster Ansprechpartner sein sollte, falls er sich mal für eine
guided tour in Europa entscheiden sollte...
Somit sind wir weit hinter dem Feld und rollen ganz entspannt die finalen Kilometer hinauf zur Passhöhe und zur Verpflegung, die Local Hero Danilo, der anscheinend jeden Quadratzentimeter Asphalt Montenegros kennt wie seine Westentasche, an einen traumhaften Aussichtspunkt oberhalb der Adria verlegt hat. Durch den Plan B bekommen wir also immerhin mal das Meer zu sehen! Das Speisenangebot lässt nichts zu wünschen übrig, als hätte Danilo sein Leben lang nichts anderes gemacht als quäldich-Verpflegungen. Herzlichen Dank!
Die Etappe führt dann an der Adriaküste entlang Richtung Budva, dem badetouristischen Hotspot des Landes. Ein welliges Profil entlang der Küstenstraße in der Mittagshitze, und so bremse ich nach einer kurzen laissez-faire-Phase meine sich inzwischen formierte entspannte Gruppe ein wenig ein, damit wir uns nicht völlig kaputt fahren. Der Abschnitt entlang der Küste ist leider geprägt von einigen Nahtoderfahrungen durch überholenden Schwerlastverkehr. Dabei war es eigentlich sehr schön, am Meer entlang zu cruisen. Hinter Budva nimmt der Verkehr dann etwas ab, aber die Hitze macht uns zu schaffen, weswegen ich vor dem abschließenden Anstieg hinüber zur Bucht von Kotor nochmal eine Cola-Pause vorschlage, die auch begeistert angenommen wird.
Zwölf Prozent Steigung auf dem kurzen Abschnitt hinauf nach Trojica hat uns Danilo versprochen, und natürlich hatte er recht. Aber natürlich meistert die entspannte Gruppe auch diesen Anstieg mit einem Lächeln im Gesicht. "Das ist die Passhöhe", gebe ich bekannt, als wir dieselbe erreichen. "Das war ein Pass?" fragt Peter ungläubig zurück. Tatsächlich ist er Rennrad-Einsteiger und ist eigenen Angaben zufolge noch nie zuvor einen Pass gefahren. Und heute gleich zwei. Was für ein Einstand. Das Lächeln manifestiert sich dann in der atemberaubend schönen Abfahrt nach Kotor, als wir die steil über der Bucht aufragenden Felsen bewundern können. Die letzten Kilometer sind auch die schönsten des Tages. Nach kulturellem Kurzstopp in Kotor mit Eis geht es dann zum wunderschön am Strand gelegenen Hotel, wo die Bademöglichkeit sehr gerne wahrgenommen wird.
Urplötzlich mit Urlaubsfaktor - das auch noch!
Erkenntnisse des Tages:
- Wen stört schon ein Plan B, wenn man am Ende des Tages im Meer baden kann.
- Hoffentlich reicht unser Vorrat an Ersatzschläuchen.
- Schön hier!
Musikalische Untermalung:
Aufgrund der ersten Passerfahrungen von Peter (Jan, eine Weltpremiere!) wählen wir heute als Lied des Tages ein Meisterwerk der jugendlichen Subkultur seiner Heimatstadt Bielefeld, einem Revier ohne jede Möglichkeit zum ersten Rennrad-Pass des Lebens.
https://youtu.be/4pNgPT1sD7A
Ursprüngliche Etappenbeschreibung:
Gleich am ersten Tag befahren wir nicht nur einen der landschaftlich schönsten Abschnitte des montenegrinischen Straßennetzes, sondern statten auch einem kulturell-historisch bedeutsamen Ort einen Besuch ab: dem Njegos-Mausoleum auf dem Berg Jezerski Vrh. Es handelt sich um die Grabstätte des ehemaligen Fürstbischofs von Montenegro, der nicht nur geistliches und weltliches Oberhaupt des Landes, sondern auch noch dessen bekanntester Dichter ist. Die Etappe führt uns aus der Hauptstadt Podgorica hinaus, und eigentlich sind wir sofort in einem langgezogenen Anstieg, der über den Vorpass Dobrske Selo und die historische Hauptstadt Cetinje auf den Jezerski Vrh führt. Wirklich atemberaubend schön wird es dann, wenn wir die übereinander geschachtelten Serpentinen hinab zur Bucht von Kotor fahren, wo dann auch die Etappe endet.