23.08.2021,
Jan:
Als Tom und ich uns 2016 Freiburg-Nizza ausdachten, spielte der Große Sankt Bernhard eine wichtige Rolle in den Überlegungen. Eine Bergankunft auf dem Alpenpass mit dem größten Anstieg, eine Übernachtung im Hospiz bei den Bernhardinern, das sollte es sein! Für mich umso attraktiver, als ich den Pass bis dato noch nicht gefahren war (und bis heute immer noch nicht bin) – die gröbste Scharte, die es noch auszuwetzen galt und gilt.
Damals kann ich noch nicht ganz einschätzen, was an den Horrorszenarien dran ist, die von
Lebensgefahr! in den Galerien und Tunnels unterhalb des Tunnelportals auf der Martigny-Seite berichten. Tom kann es einschätzen, und natürlich hatten wir dort nie Probleme auf unseren Reisen.
Dass es noch ganze 5 Jahre dauern sollte, bis ich Freiburg-Nizza endlich mal selber leiten könnte, hätte ich damals nicht erwartet. Seit unserer quäldich-internen
Westschweiz-Tour 2008 steht auch der Anstieg zum Lac de l'Hongrin auf meiner Todoliste. Umso größer heute morgen meine Vorfreude, beide mit einer Etappe kombinieren zu können...
Dennys Achillessehne bereitet ihm Sorge, so dass er heute Norbert im Begleitfahrzeug Gesellschaft leistet. Damit steht er in guter Tradition von Rainer, der im letzten Jahr wegen Knieproblemen auf dieser Etappe Norberts Beifahrer war. Ich bin somit heute in Gruppe 3 im Einsatz und komme mal wieder in den Genuss, Rüdiger und Brigitte zu guiden, die nach letztem Jahr schon ihre zweite Freiburg-Nizza-Tour bestreiten, und auch schon zum zweiten Mal auf den
Col du Grand St. Bernard fahren – nach der Regenetappe bei der Mont-Blanc-Umrundung im letzten Jahr. Sie haben mir also einiges voraus. Auch Oliver hatte ich schon in meiner Gruppe 4 von Basel-Barcelona. Olaf, Sigi, Stephan und Stephan komplettieren die Truppe, die bestgelaunt um 8.30 Uhr in Bulle startet. Bei bestem Wetter, und so soll es heute den ganzen Tag bleiben.
Mein Einstand ist nicht so glücklich, ich lege mich erstmal noch in Bulle mit einem BMW-Fahrer an, der uns ausbremst und auf die
Piste cylable, piste cyclable! drängen will. Ich kenne das Konzept, solche Idioten am Besten zu ignorieren, aber es will heute nicht angewendet werden. Etwas peinlich, aber Stephan aus Marienfelde fühlt sich immerhin "fast wie zuhause"!
Auch auf den nächsten 16 Kilometern über die Hauptstraßen des Gruyères machen die Schweizer Autofahrer ihrem Ruf keine Ehre, aber immerhin weiß sich der Neuköllner Asi fortan zu benehmen. Danach nimmt der Verkehr glücklicherweise schlagartig ab, als wir auf den Almweg in Richtung
Lac de l'Hongrin einbiegen. Wunderschön! Heidiland pur, ich fühle mich an den
Mittelberg (Schweiz) erinnert. Die angekündigten Naturstraßenpassagen gibt es nicht mehr, längere Abschnitte wurden in diesem Jahr neu asphaltiert, nur noch ein kleiner Teil weist einen grenzwertigen Asphaltbelag auf. Bei Erreichen der Staumauer werden schlagartig Handys und Kameras gezückt. Glitzernder See vor Heidialmen und Felsgraten. Wow! Besonders schön ist, dass hier alle Gruppen zusammen sind. Unser Vorsprung ist aufgeschmolzen, und so bekomme ich alle Gruppen vor die Linse.
Am Panzerschrott der Schweizer Armee sammeln wir die Gruppe und biegen auf den
Col des Mosses ein. Der ist schnell weg gesnackt. Sanfter Anstieg in schöner Landschaft, und eine Hammer-Abfahrt. Hinter der Gruppenleichtesten mangels Schubmasse nicht schnell, aber dennoch toll! In Aigle folgen wir dem Balades des Fontaines zunächst zu Station 21, wo wir unsere Trinkflaschen auffüllen. Danach folgen wir Toms Track, der kunstvoll in mehreren Schlaufen durch die Innenstadt zirkelt, um möglichst viele Trinkwasserbrunnen einzusammeln. Wir ignorieren allerdings diesen Versuch, uns die Trinkwasserhistorie von Aigle näher zu bringen und kürzen gekonnt in Richtung Rhône ab. Der Rhône-Radweg fährt sich hier unten richtig klasse, es ist an diesem Montagnachmittag nichts los, und trotz einiger Haken und Ösen erreichen wir, mittlerweile allerdings nach 90 km und 900 Höhenmetern recht angezählt, komplikationslos Martigny.
Norberts Picknick am Picknickplatz wird ausgedehnt genossen, das Wasser von Martigny steht am örtlichen Brunnen dem von Aigle in nichts nach, und schon kann man sie nicht mehr länger vor uns her schieben, die längste Passanfahrt der gesamten Alpen (den
Colle del Nivolet zähle ich hier mal nicht als Pass, also schränke ich lieber auf den
Club 2K ein). Der Verkehr steht schon in starkem Kontrast zur bisherigen Etappe. Ein PKW nach dem anderen rauscht an uns vorbei, auch LKW um LKW strebt gen Tunnelportal. Das Verhalten der Verkehrsteilnehmer ist aber unauffällig bis vorbildlich, so dass wir stetig und unbeirrt Strecke und Höhe gewinnen. Bis Sembrancher zieht es noch mehr als gemächlich hin, nach dem Verbier-Abzweig pendelt sich die Steigung bei 5-6 % ein. Das reicht nicht für rasante Steigleistungen, und in den ersten beiden Aufstiegsstunden schwinden die Kilometer schneller als die Höhenmeter. Orsières liegt hinter uns, als wir die ersten beiden weiten Kehren durchfahren. Oberhalb können wir Champex-Lac erkennen, und den Col de Champex, den wir Heute dann doch lieber ausgelassen haben. Die Hauptstraße erscheint uns doch attraktiver als zusätzliche 500 Höhenmeter. Fontaines Dessous liegt hinter uns, und hinter Rive-Haute auch erst die zweite Doppelkehre. Noch mehr als 1200 Höhenmeter, und wir gehen erstmals aus dem Pedal um den Oberschenkeln etwas Erholung zu gönnen. Die erste Galerie können und müssen Radfahrer noch umfahren, aber hinter Bourg-Saint-Pierre wird es ernst, wir müssen in die berüchtigten Galerien. Rüdiger kommt der rettende Einfall, hier noch eine kalte Cola zu trinken. Passend steht auch Sigi bereit (Stephan und Oliver sind längst Richtung Passhöhe enteilt), und alle bringen ihr zentrales Nervensystem zurück auf Betriebstemperatur.
Dann geht es in die fünf Kilometer lange Galerie, über die wahre Horrorgeschichten kursieren. In unserem Fall: vielleicht zwei knappe Überholmanöver, aber die Galerien sind gut (meist durch Tageslicht) beleuchtet, und als Tunnel verläuft maximal ein Kilometer. Insgesamt viel Lärm um nichts, und der Große Sankt Bernhard ist somit problemlos zu fahren, zumindest an einem Montag zugegebenermaßen recht spät abends. Sicherlich nicht mein Lieblingspass, aber dennoch Pflicht für jedes gut gefüllte Palmares. Ich komme gerne wieder! Dennoch sind wir alle erleichtert, als wir die Galerien verlassen und auf die Passstraße wechseln. Schlagartig ebbt der Verkehr ab, die Szenerie nimmt uns ganz in ihren Bann, in tranceähnlichen Zuständen pedalieren wir dem nur noch 6,5 km entfernten Ziel entgegen.
Um 18.15 Uhr werden wir da sein, wir haben keinerlei Zeitdruck, der halbstündig nach vorne versetzte Aufbruch war gold richtig. Halb zog es uns, halb sanken wir hin – ich für meinen Teil habe diesen letzten Abschnitt sehr genossen. Was für ein unbeschreibliches Gefühl, letztlich das Hospiz am Passeinschnitt auftauchen zu sehen. Endlich oben! Endlich am Großen Sankt Bernhard!
Ursprüngliche Etappenbeschreibung
Fast bis nach Italien geht es auf der dritten Etappe. Nach dem Etappenstart in Bulle geht es zunächst durch das Gruyère, der Heimat des vermutlich zweitbekanntesten Schweizer Käses (nach dem Emmentaler). Auf einer herrlich einsamen, abenteuerlichen Nebenstrecke entlang des Hongrin-Stausees steuern wir den Col des Mosses an und haben die Waadtländer Voralpen erreicht. Eine lange Abfahrt führt uns nach Aigle im Rhonetal, wo einige Flachkilometer auf uns warten. Zu sehr sollten wir im Flachen jedoch nicht auf die Tube drücken, denn der Schlussanstieg wird uns heute alles abverlangen. Ab Martigny geht es hinauf zum Col du Grand Saint Bernard, 45 km und 2000 Hm bergauf. Es handelt sich um den wohl höhenmeterreichsten Pass der Alpen. Bis zum Nordportal des Tunnels müssen wir uns die gut ausgebaute Straße zwar noch mit vielen motorisierten Verkehrsteilnehmern teilen, dafür gehört das felsige Schlussstück zu den schönsten Eindrücken, die die Alpen zu bieten haben. Die Etappe ist am Pass zuende - wir übernachten heute auf 2473 m Höhe. Sicher ein eindrückliches Erlebnis, wenn die Sonne untergeht, die Sterne herauskommen, und man die Lichter weit unten im Tal nur noch erahnen kann...