14.11.2019,
majortom:
2645 m. Col du Galibier.
Ein unglaublicher Moment. Schon von weitem haben wir die Passhöhe gesehen, hoch oben auf dem Kamm. So nah und doch so fern. Durch malerische Alpenkulisse haben wir uns Meter um Meter hinauf gekämpft.
Von etwa 500 Metern Meereshöhe in Saint Jean de Maurienne. Erst das Tal hinauf, voller Euphorie in Erwartung eines traumhaften Rennradtages. Die Sonne strahlt vom makellos blauen Himmel, doch in den Morgenstunden ist es noch angenehm kühl. Wenn die Mittagshitze im Tal immer gnadenloser wird, sind wir schon längst auf dem 1570 m hohen Vorpass, dem Col du Télégraphe. Eine erste Pause, eine wohlverdiente Stärkung, denn trotz des Anstiegs von 850 Höhenmetern ist das mit viel Wohlwollen vielleicht die halbe Miete. Der Galibier liegt nochmal mehr als tausend Höhenmeter höher. Kurze Zwischenabfahrt in den Skiort Valloire, und dann hinein in den Galibier. Das gerade Tal hinauf, die Wende um 180 Grad, die felsige Kulisse, und dann erscheint die Passhöhe vor uns. So nah und doch so fern.Schließlich der Schlusshang. Die Serpentinen winden sich eine Wand hinauf. Die Luft wird spürbar dünner. Die Steigung zieht dafür nochmal ein wenig an. Letzte Kräfte mobilisieren. Und dann ist es mit einem Mal vorbei. Die Passhöhe. Ausklicken aus dem Pedal. Zu Atem kommen. Und genießen.
Das Panorama: fantastisch. Im Norden prangt das Massiv des Montblanc am Horizont. Die Sicht ist heute fantastisch, der weiße Gipfel erscheint zum Greifen nah, obwohl er mehr als hundert Kilometer entfernt ist. Im Süden dagegen blicken wir auf die Barre des Ecrins, den südlichsten Viertausender der Alpen. Der Col du Galibier ist ein Monument. Einer der „großen Vier“ bei der Tour de France (gemeinsam mit Mont Ventoux, Col du Tourmalet und Alpe d‘Huez).
Blick zurück. Noch nicht alle sind oben; es ist schwer, zwischen all den Rennradfahrern in den Serpentinen unter uns die anderen Fahrer aus unserer Gruppe auszumachen. Jeder fährt sein eigenes Tempo. Doch alle Zweifel sind verflogen. Wir alle werden es schaffen. Der eine etwas schneller, der andere etwas langsamer. Das breite Grinsen im Gesicht ist bei jedem dasselbe. In dem magischen Moment, als die letzte Kurbelumdrehung uns über die imaginäre Ziellinie bringt. Hier am Galibier. Wie schön es doch ist, dieses Erlebnis teilen zu können. Wer hat das für möglich gehalten, als wir vor ein paar Tagen am Genfer See auf unsere Rundreise gestartet sind?
Montblanc-Panorama von der Galibier-Passhöhe.
1723 m. Col des Annes.
Rückblende zu Tag zwei. Wir waren noch nicht auf den richtig hohen Pässen. Die kommen noch. Morgen soll es über den Col de la Madeleine gehen, übermorgen dann auf den Galibier. Ein paar verwegene haben sich heute auf eine kleine Zusatzrunde gemacht. Zum Col des Annes am Fuß der 2753 m hohen Pointe Percée, dem markanten höchten Punkt der Aravis-Kette. Im Herzen der Savoyer Alpen.
Savoyen, die Gastgeberregion unserer Reise. Wir sind hier in Frankreich, aber die Savoyarden lassen keine Gelegenheit aus, uns klarzumachen, dass das hier nicht einfach irgend eine Gegend in Frankreich ist. Seien es die separatistischen
„savoie libre“-Parolen, die man hin und wieder auf Straßen und Mauern gesprüht sieht, sei es die Flagge mit weißem Kreuz auf rotem Grund –
c‘est la Savoie, ici!
Savoyen steht für: Käse.
Reblochon à la vente, verkündet ein Schild an praktisch jedem Hof, den wir auf dem anstrengenden Anstieg hinauf zum Col des Annes passieren. Hier wird der Reblochon-Käse verkauft, ein Aushängeschild der Region. Wer wohl angesichts der fiesen Rampen, die diese schmale Straße abseits der bekannten Touristenrouten erklimmt, auf derlei Verlockungen achten kann und will? Sicher ist: hätten wir die Möglichkeit, den Reblochon hier zu probieren, wir würden uns die Trikottaschen wohl voll machen damit.
Die Passhöhe ist ein geschotterter Parkplatz. Höchstens ein paar Wanderer verirren sich hierher, die Bergtouren in den Aravis unternehmen. Ob sie uns wohl bemitleiden, dass für uns hier Schluss ist, während sie noch weiter in die Höhe streben? Der Col des Annes ist eine Sackgasse, wir müssen also umdrehen. Auch das ist Savoyen: traumhafte einsame Bergstraßen ins vermeintliche Nirgendwo, die sich – wagt man das Abenteuer – als fantastisches Naturerlebnis zwischen Reblochon und Pointe Percée entpuppen. Die Hütte am Parkplatz lockt mit deftigen savoyardischen Spezialitäten. Doch ein Fondue, wenn der Weg bis ins Tagesziel Albertville noch weit ist? Leider undenkbar…
Pays du Reblochon: der Col des Annes im Aravis-Massiv.
447 m. Annecy.
Tag sechs unserer Reise. Wir haben einiges auf des Radsportlers
bucket list abgehakt. Col de la Colombière. Col de la Madeleine. Heute noch den Crêt de Châtillon im Semnoz-Gebirge, mit knapp 1700 m Höhe hoch über dem Lac d‘Annecy gelegen. Und natürlich die Krönung – den Galibier! War das wirklich erst vor zwei Tagen?
Die trotz bester äußerer Bedingungen – traumhaftes Sommerwetter von Tag eins an – und trotz atemberaubender Alpenkulisse von Beginn an doch auch immer etwas angespannte Stimmung ist einem entspannten Urlaubs-Feeling gewichen. Seit gestern schon logieren wir hier im „Venedig der Alpen“. Annecy, ein quirliges Örtchen, die malerische Altstadt von Kanälen durchzogen, am See gleichen Namens, dem Lac d‘Annecy gelegen. Hinter dem See türmt sich der markante Gipfel der Tournette auf, 2351 m hoch. Dieser unglaublich schöne Anblick ist – angeblich – nach dem Eiffelturm das am zweitmeisten fotografierte Motiv Frankreichs.
In der Altstadt von Annecy begegnen wir beim Abendessen dem Reblochon wieder. Es gibt: Tartiflette. Das inoffizielle savoyardische Nationalgericht. Man muss es probiert haben, denn die Beschreibung als Auflauf mit Kartoffeln, Zwiebeln, Speck, Crème fraîche und natürlich Reblochon wird der Tartiflette nicht im Ansatz gerecht. Es ist fettig, es ist mächtig, es passt so gar nicht auf den Speiseplan eines Radsportlers. Aber es ist einfach unglaublich lecker. Und vielleicht ist gerade auch das das Geheimnis dieser Reise. Hat man die Savoyer Alpen erlebt, wenn man auf den Galibier gefahren ist? Oder hat man die Savoyer Alpen erst erlebt, wenn man nach einer gemeinsamen Tagestour rund um den Lac d‘Annecy, nach einem anschließenden erfrischenden Bad im See, am Abend gemeinsam auf Holzbänken im ersten Stock des Restaurants sitzt und Tartiflette isst?
Unglaubliche Aussicht vom Col de la Forclaz auf den Lac d'Annecy