08.07.2020,
Jan:
Das Stilfser Joch ist halt das Stilfser Joch. 21,5 km und 1540 Höhenmeter mit 40 Kehren, weiß das Pässelexikon ab Bormio. 300 Höhenmeter und 3 km weniger, wenn man nur bis zum Umbrailpass fährt, die Regelvariante von heute. Entsprechend fällt die Gruppenwahl aus: Gruppen 1 und 2 fahren zum Joch, Gruppen 3a und 3 biegen am Umbrailpass ins Val Müstair ein. An der Ampel in Bormio dann ein Riesenpulk von Radfahrern, die alle bergauf wollen. Neben unseren noch einige Radfahrer aus der Rhön und vom Bodensee, die, wie wir schnell herausfinden, hute alle drei Seiten aufs Stilfser Joch fahren wollen.
Es rollt gut, und ich entscheide mich, etwas nach vorne zu fahren, um über der Kehrengruppe Fotos zu machen. Was sogar glückt. Mein Platz oberhalb Km 106 entpuppt sich als der vermutlich beste Fotopunkt, mit einer kleinen Gehpassage erkauft.
Ab hier fahre ich dann erst mit Daniel, dann mit Yves hoch, der eigentlich in Olis Gruppe 3a ist. Aber am Umbrailpass auch mit mir rechts abbiegt Richtung Stilfser Joch. Klar. Hier kann man die Passhöhe schon sehen, und natürlich will er dann noch da rauf. Gipfelstolz!
Oben steht Richard und verkauft Vinschgerbrot mit Sauerkraut und Bratwurst. "Seit 54 Jahren", sagt er breit grinsend. Yves Vinschgerbrötchen spendiert er mir, schließlich habe ich ihm seinen Umsatz des Tages beschert, und da lässt er sich nicht lumpen. "Frau Merkel war auch schon hier", sagt Richard. "Und da sage ich zu ihr: „Frau Sauer, nehmen Sie ruhig ordentlich Sauerkraut, da können Sie gut furzen!” Leider war keine Kamera dabei, sonst hätte die ganze Welt darüber gelacht!" Er erzählt auch, wie ein Radfahrer mal sein Rennrad über die Brüstung geworfen hat vor Wut. Und als er es wiederholen wollte, hatte es schon ein anderer geholt. Hier erlebt man halt was. Am Stilfser Joch.
Von der Tibethütte genießen wir noch den Ausblick auf die komplette Kehrengruppe bis hinunter zur Franzenshöhe. Dann rollen wir zurück zum Umbrailpass. Yves ist nicht der einzige, der dem verlockenden Ruf des Stilfser Jochs gefolgt ist, und so ist meine Gruppe wundersam angewachsen.
Herrlich einsam ist der Umbrailpass, genau wie Tom es in seiner Etappenüberschrift angekündigt hat. Unten in Santa Maria steht Thomas mit der Verpflegung, aber dank des Sauerkrauts begnüge ich mich mit einer Banane. Ich setze mich an die Mauer, auf einmal bin ich so müde. Daniel hat Beweismaterial. Mein Kreislauf sackt sogar etwas ab, was sich in der ersten Steilstufe des Ofenpasses hinauf nach Tschierv rächen soll. Alle ziehen davon, und ich muss mich im Flachstück zusammenreißen, um wieder ran zu fahren. Die Kraftwerke müssen aus dem Revisionsmodus geweckt werden. Das gelingt sogar, und so fahre ich einen nach dem anderen wieder auf. Sogar an Oli komme ich noch ran, aber er hat irgendwas genommen und drückt einen Stiefel hoch, der mich bei ihm bleiben lässt. So können wir ein wenig miteinander fahren. Sehr seltene Gelegenheit!
Am Ofenpass sitzt die entspannte Gruppe entspannt in der Sonne und trinkt Café. Ich möchte die mühsam geweckten Kraftwerke nicht schon wieder runter fahren und trommle meine Gruppe zur Weiterfahrt. Die moosbewachsenen Kiefern im Schweizer Nationalpark sind sehenswert, können aber nicht darüber hinweg täuschen, dass ich den Ofenpass einfach nicht mag. Das können auch die Bären nicht, die es hier geben soll, zumal wir sie natürlich nicht zu Gesicht bekommen. Ich mochte ihn noch nie, dabei ist er eigentlich ganz nett mit den Blicken über das Münstertal hinweg bis zum Ortler nach Süden, und durch den Nationalpark nach Norden. Die Baustellen machen es halt nicht besser. Immerhin haben wir endlich mal einen Platten, so dass ich wenigstens meine Guiderolle rechtfertige. "In der Kurve hätte das aber nicht gerade sein müssen", sagt Charly. Der Platten ist schnell geflickt, und unten in Zernez sitzt die Gruppe beim geplanten Café. Die Zeit souverän genutzt! Ein alkoholfreies Bier und ein Aprikosenkuchen befeuern die Kraftwerke. Das ist auch bitter nötig, denn das Engadin hinauf bläst ein rauher Wind. Glücklicherweise hatte ich meine Gruppe schon auf die beiden Hangumfahrungen der Hauptstraße eingeschworen, und so biegen wir nach der Durchfahrung von Susch (keiner zuckt in Richtung
Flüelapass) und Lavin kurzerhand nach links in Richtung
Guarda ab. Der Aufstieg ist relativ anspruchsvoll, aber die Blicke über das untere Engadin hinweg auf die für mich namenlosen Spitzen auf der anderen Talseite und der wunderschöne, intakt und genau richtig touristisch wirkende Ort kompensieren für die Anstrengung. Ein glücklicher Peter sitzt schon links in einer Ostaria. Wäre ich alleine gewesen, hätte ich mich zu ihm gesetzt. Auf einen Bündner Teller. Lebensart.
An einem der vielen Brunnen spielen Kinder, und als ich die Frage nach "Dürfen wir Sie nass spritzen?" bejahe, bin ich ziemlich schnell ziemlich nass. Schön! Leben!
Auf schmaler Straße rollen wir hinunter nach Ardez mit seinem Turm, und auf sanfter Steigung wieder rauf in Richtung Ftan. Das noch in der Beschreibung verzeichnete 2 km lange nicht asphaltierte Stück ist verschwunden, und so ist es eine reine Genussfahrt. Alle sind froh, hier entlang gefahren zu sein. Zumal eine rasante Schussabfahrt uns direkt auf die Hotelterrasse spült. Erst nach einigen Bieren sagt jemand: "Ach, das hier ist unser Hotel? So ein Glück!"
Ja, wirklich. So ein Glück, auf dieser Reise zu sein. Und morgen wartet schon wieder das Stilfser Joch. Diesmal von Prad.
Was ist das Monument der Rhön, Hagen?
Ursprüngliche Etappenbeschreibung
Das Ortlermassiv grüßt im Osten, das Stilfser Joch grüßt umso mehr. Und tatsächlich fahren wir zunächst von Bormio in Richtung Stilfser Joch. Etwa 300 Höhenmeter vor der Passhöhe wenden wir uns jedoch nach Norden und überqueren die Grenze zur Schweiz. Wer möchte, macht die Auffahrt zum Stilfser Joch einfach noch komplett und dreht wieder um, so viel Zeit muss sein. Dann geht es jedoch vom Umbrailpass hinab ins Münstertal - der ehemals nur geschotterte Pass ist inzwischen vollständig asphaltiert. Dann wenden wir uns nach Westen, wo es hinauf zum Ofenpass geht, quer durch den Schweizerischen Nationalpark. In Zernez erreichen wir wieder das Engadin, dem wir flussabwärts bis zum Etappenort Scuol folgen.
Option: Wenn man schonmal von Bormio bis zum Umbrail-Abzweig gefahren ist, kann man natürlich auch noch ganz aufs Stilfser Joch hoch. In dieser Variante kommt man auf 100 km / 2700 Hm.