30.06.2020,
Pocatky:
Wie sieht er aus, dieser Moment der Schwäche? Wenn wir der Versuchung nachgeben, wenn wir von dem abweichen, was wir uns vorgenommen haben, wenn wir schwach werden? Und wann spricht diese Stimme, ist sie laut und klar, deutlich und gut zu hören?
Radfahren, Rennradfahren besonders, ist gefährlich. Auf dünnen Reifen, mit Drahtzügen und Felgenbremsen stürzen wir uns die Abfahrten runter und verlassen uns dabei auf uns, auf unser Material und unsere Umwelt. Mit der klappt es nicht immer, mit den Autofahrern, den Fussgängern und vor allem den Bikern und den Autos stehen wir auf Kriegsfuss. Umso mehr ist es wichtig, bei uns anzufangen, unsere Grenzen zu kennen, selber dafür zu sorgen, dass die Gefahr nicht steigt. Denn auch wenn es so schön ist, das Rennradfahren, es gibt auch ein Leben neben diesem und Risiken, die man vermeiden kann. Aber diese bewertet jeder von uns unterschiedlich, aufgrund seiner Mentalität, der Erfahrung und der eigenen Grenzen. Für mich war es also heute morgen nach 17,4 km im strömenden Regen, als wir an der Abbiegung zum ersten Pass Col des Mosses hochfahren sollten, kein Moment der Schwäche, die Entscheidung zu treffen, statt dessen den Zug bis nach Martigny zu nehmen. Für mich war es vernünftig, sich dafür zu entscheiden, sich der Gefahr nicht auszusetzen, 1000 hm in einem Gewitter hoch und dann wieder runterzufahren. Aber wir haben uns vorgenommen, von Freiburg bis nach Nizza zu fahren und es gibt auch Mitfahrer, die mit dieser Entscheidung hadern und sie eben als einen solchen Moment bezeichnen.
Es regnete bereits gestern Abend, die ganze Nacht und auch heute morgen, als alle Gruppen um 9 Uhr zur Abfahrt bereit waren (Ergebnis der Marktforschung: RAPHA), öffnete der Himmel seine Schleusen. So haben wir gewartet, sind 45 Minuten später losgefahren, dann fing es wieder an, wurde weniger, fing dann stärker wieder an und nach 17,4 km konsultierten wir den Regenradar und lernten schließlich die Vorzüge der Bahn kennen. Dank Markus, unserem Guide, der innerhalb von 3 Minuten einen Reiseplan entwickelt, einen Bahnhof in Sichtweite gebaut hat und einem Umsteigen waren wir dann kurz nach 13 Uhr in Martigny beim strahlenden Sonnenschein an der Verpflegung, die wir notwendig hatten. Zugfahren schlaucht, vor allem, wenn man dabei immer wieder mit der Entscheidung hadert. Die Gruppen 1 und 2 kamen nach uns an, keinem ist was passiert, aber kalt, sehr kalt, nass, sehr nass ist es oben gewesen. Kompliment an alle, die es gemeistert haben!
Und dann ging es für uns alle in den Berg, den Berg des Tages. Und man dachte, es ist wieder ein neuer Tag. Morgens kalt, schwarzer Himmel, regnerisch und sechs Stunden später - blauer Himmel, Rückenwind und 45 km und 2000 hm vor uns zum Col du Saint Bernard. ,,Der Berg kann was" oder ,,der Berg ist zäh" hieß es, dank Norbert konnten wir uns 14 km vorm Col noch einmal stärken, die Gruppen mischten sich und als wir dann auf das Schlussstück kamen, wurden wir von starken Steigungsprozenten und dem Geschrei eines Murmeltiers begrüßt. Das letzte Stück ist wirklich steil und wirklich wunderschön, aber sechs Kilometer können lang sein. Und sie waren es auch. Bernd nahm es mit dem Guide der Gruppe 1 auf, hielt mit, andere waren im Tunnel und oben alle glücklich - das Hotel ist sehr schön und hat Fahrstuhl!
So verlassen wir morgen die Schweiz Richtung Italien, zahlen nicht mehr kleinste Beträge mit Karten und müssen uns wahrscheinlich im Hinblick auf Corona anders einstellen. Denn die Schweiz ist im Vergleich zu Deutschland und auch Frankreich damit entspannt umgegangen. Keine Maskenpflicht, Abendbuffet und sogar Frühstücksbuffet, wenn auch mit einzeln eingepackten Wurst- und Käsescheiben. Wir können uns sicher sein, in Italien - und dies hat seine Gründe - wird es anders sein. Da wird mehr die Stimme der Vernunft sprechen.
Und wer sich jetzt wundert, warum es so viele Fotos aus dem Begleitfahrzeug gibt, für den gibt es noch den Bericht von Reiseleiter Rainer.
Den Moment der Schwäche oder Vernunft kann ich absolut unterschreiben. Das Knie wurde durch unvernünftiges Training am Wochenende zuvor zerstört und hatte sich bis zum Beginn der Reise fast erholt. Durch die Belastung der Vortage wurden die Beschwerden aber wieder reaktiviert.
Den Moment der Vernunft abzufangen ist nicht einfach. Für mich war dieser am Fuße des Großen Sankt Bernhard. Eine Fahrt im Besenwagen ist durchaus interessant. Man lernt das Leiden der Radfahrer von einer ganz anderen Seite kennen. Schon an der Sitzposition lässt sich der Gesichtsausdruck von hinten erahnen. Im vorbeifahren lassen sich diese mit der Kamera einfangen.
In der Retrospektive betrachtet war es definitiv kein Moment der Schwäche. Manchmal muss man einen Gang zurück schalten und dem Körper eine Pause gönnen und neue Erfahrung sammeln.
Ursprünglicher Etappenbericht:
Fast bis nach Italien geht es auf der dritten Etappe. Nach dem Etappenstart in Bulle geht es zunächst durch das Gruyère, der Heimat des vermutlich zweitbekanntesten Schweizer Käses (nach dem Emmentaler). Auf einer herrlich einsamen, abenteuerlichen Nebenstrecke entlang des Hongrin-Stausees steuern wir den Col des Mosses an und haben die Waadtländer Voralpen erreicht. Eine lange Abfahrt führt uns nach Aigle im Rhonetal, wo einige Flachkilometer auf uns warten. Zu sehr sollten wir im Flachen jedoch nicht auf die Tube drücken, denn der Schlussanstieg wird uns heute alles abverlangen. Ab Martigny geht es hinauf zum Col du Grand Saint Bernard, 45 km und 2000 Hm bergauf. Es handelt sich um den wohl höhenmeterreichsten Pass der Alpen. Bis zum Nordportal des Tunnels müssen wir uns die gut ausgebaute Straße zwar noch mit vielen motorisierten Verkehrsteilnehmern teilen, dafür gehört das felsige Schlussstück zu den schönsten Eindrücken, die die Alpen zu bieten haben. Die Etappe ist am Pass zuende - wir übernachten heute auf 2473 m Höhe. Sicher ein eindrückliches Erlebnis, wenn die Sonne untergeht, die Sterne herauskommen, und man die Lichter weit unten im Tal nur noch erahnen kann...