19.09.2017,
majortom:
Ein bisschen Wehmut ist immer dabei, wenn wir es nicht gleich nach der Schlussetappe schaffen, einen Tourenbericht zu schreiben, und stattdessen ein paar Tage später die Bilder von der sonnigen Provence nochmal aus dem Gedächtnis hervorkramen und die Reise nochmals bei herbstlichem grau in grau im Büro Revue passieren lassen. Sind es wirklich erst ein paar Tage, dass wir bei strahlendem Sonnenschein und herrlicher Aussicht bis fast zum Mittelmeer auf dem Gipfel des Mont Ventoux gestanden sind?
Es ist kalt geworden in der Provence, als wir am Samstag Morgen in Sault stehen, den Giganten der Provence direkt vor Augen. Die Sonne steht noch tief, und als ich in die Runde blicke, sehe ich eine Runde Rennradfahrer, die winterlich gekleidet ist. Einstellige Temperaturen am Morgen in Sault, und einstellige Temperaturen werden auch am Mittag auf dem Gipfel erwartet. Während die sportiven und ausdauernden Gruppen sich auf den Umweg über die Gorges de la Nesque machen, schare ich eine kleine entspannte Gruppe um mich, die den Mont Ventoux direkt von Sault aus in Angriff nehmen möchte. Kalte, klare Luft im Schatten gibt in der kurzen Abfahrt vom auf einem Felssporn gelegenen Ort hinab ins Nesque-Tal schonmal einen Vorgeschmack auf die Kälte auf 1900 Metern Höhe.
Doch dann dauert es nicht lange, bis in der Morgensonne die ersten Jacken ausgezogen werden, als der Beginn der Auffahrt den Kreislauf in Schwung bringt. Die Auffahrt von Sault ist nur mäßig steil, doch 26 km bergauf sind natürlich ein Wort. Ich beschließe, es gemütlich angehen zu lassen, schließe mich dem Grupetto an, und wir rollen nun durch den Wald der östlichen Ventoux-Flanke. Nachdem wir die letzten Tage kaum mal andere Rennradfahrer zu Gesicht bekommen haben, scheint die Zahl der Kollegen auf dünnen Reifen mit der Nähe zum Ventoux exponentiell zuzunehmen, wir werden überholt, wir überholen. Der Ventoux ist eben doch eine Kathedrale des Radsports, der die Pilger unserer Zunft zu sich anzieht. Selbst Mitte September bei ungewöhlich herbstlichen Temperaturen.
Irgendwie vergeht der unspektakuläre Teil des Anstiegs bis zum Chalet Reynard wie im Fluge. Zu routiniert sind wir wohl auf dem Rad geworden, als dass uns dieser lange Anstieg noch schrecken könnte. Eines deutet der heutige Tag jedoch schon im unteren Teil an, als wir immer höher kommen und die Blicke in Richtung der Hochalpen wandern: heute haben wir eine sehr klare Sicht und können ein sensationelles Panorama erwarten. Dramaturgischer Wendepunkt dann am Chalet Reynard. Hier gelangen wir in die berühmte Felswüste, sehen den Turm des Observatoriums vor uns; dennoch sind es noch sechs teils steile Kilometer, die vor uns liegen. Ich eskortiere weiter das Grupetto hinauf, doch dann bekomme auch ich die Magie dieses Gipfels zu spüren und lasse mich für die letzten 1,5 Kilometer auf einen Zweikampf mit einem Unbekannten ein (den dieser mit zehn Metern Vorsprung für sich entscheidet). Natürlich rausche ich dabei an Erich vorbei, der kurz unterhalb des Gipfels mit der Verpflegung wartet. Erst auf den Gipfel, dann Schnittchen und Cola. Prioritäten setzen.
Wir bleiben nicht lang, eine Wolke zieht vor die Sonne, und das macht uns wieder die Kälte bewusst. Noch kurz die sensationelle Aussicht genießen, bis zu den Hochalpen, über die Hügel der Provence, bis zu den Cevennen und über den Lubéron und die Alpilles hinweg fast bis nach Marseille ans Mittelmeer. Dann auf in die Abfahrt – zum Glück kommt die Sonne wieder heraus. Und es ist heute fast windstill – womit wir wohl wirklich mehr Glück als Verstand haben. Eine rauschende Abfahrt auf frisch asphaltierter Straße (im Mai lag hier noch der Rollsplitt als Relikt der Ausbesserungsarbeiten), und bald steigen Richtung Malaucène glücklicherweise auch die Temperaturen wieder an. Wie abgesprochen sammelt sich die Gruppe in einer Bar in Malaucène, bei Café au lait in der Sonne auf der Terrasse. Plötzlich fühlt es sich wieder wie Spätsommer an.
Spontan plane ich daher nochmal die Strecke um. Genau genommen war es Tilmanns Vorschlag, noch durch die Dentelles de Montmirail zu fahren, und ich frage mich immer noch, wieso ich nicht selbst auf diese Idee gekommen bin. Jedenfalls stimmt die Gruppe überraschend schnell etwa 200 zusätzlichen Höhenmetern zu, als ich sie mit der im Vergleich ruhigeren Straße nach Baumes-de-Venise ködere. Die Strecke stellt sich als Volltreffer heraus, spätestens als wir die dolomitesken Felszacken der Dentelles vor uns sehen. Ein Umweg war es gar nicht, und in Beaumes treffen wir dann wieder auf die geplante Strecke.
Es fehlen noch 20 Kilometer unserer Reise, und sie führen uns abseits der Hauptstraßen auf schmalen Nebenstrecken durch die Ebene des Comtat. Schon bald wird die Ouvèze überquert, dann stehen wir vor den Toren von Orange. Und rollen wohlbehalten an unserem Hotel ein. Der Kreis schließt sich. Bein- und Armlinge werden bei nun deutlich über 20 Grad vom Körper gerissen, als wir vor dem Hotel in der provenzalsichen Sonne auf die Ankunft von Erich und den weiteren Gruppen warten. Eine schöne, abwechslungsreiche Woche liegt hinter uns, zwischen den Weinbergen des Rhonetals und den Hochalpen des Mercantour. Wir haben die Provence in all ihren Facetten kennengelernt, von der endlosen Hügellandschaft und zypressengesäumten Straßen über die grandiosen Schluchten und die abgelegenen Straßen der Voralpen bis zu den prestigeträchtigen Alpenpässen rund um Barcelonnette. Provenzalische Alpen, 2019 kommen wir wieder!
Ursprüngliche Etappenbeschreibung
Die Schlussetappe führt nun endlich auf den Mont Ventoux, den Giganten der Provence. Zuvor durchfahren wir noch die schöne Nesque-Schlucht.
Tour d'honneur? Dafür ist die Schlussetappe dieser Provence-Rundfahrt zu hart. Aber wer quält sich nicht auch am letzten Tag nochmal gerne so richtig, wenn es auf den Mythos Ventoux geht? Wir könnten direkt von Sault aus hinauf fahren, die Pillepalle-Route sozusagen. Wer es eilig hat, oder schwere Beine, kann das auch tun – es lohnt sich auch so. Doch die reguläre Route wendet sich zunächst noch nach Südwesten und durchfährt die wunderschöne Gorges de la Nesque, die wiederum herrliche Tiefblicke garantiert. Diese Planung erlaubt uns, den Ventoux von der klassischen Tour-de-France-Seite, also von Bédoin aus in Angriff zu nehmen. 21 km und 1600 Höhenmeter sind natürlich ein Wort. Doch wenn man am Chalet Reynard die berühmte Felswüste erreicht, wenn man den Turm am Gipfel sehen kann, dann übernehmen die Endorphine, und das Ziel rückt immer näher. Die rasante Abfahrt vom Ventoux führt nach Malaucène, und am Südrand der Dentelles de Montmirail fahren wir weitgehend flach ins Ziel nach Orange.