Am Morgen des 11. Juli 2015, am Tag der letzten Etappe von Flensburg-Garmisch, verabschieden wir die Gruppe 6 um 7.45 Uhr vor dem Aktivhotel in Aschau.
Die Stimmung ist gut, alle Teilnehmer erscheinen vor dem Haus zum Abschiedsapplaus. Der Tourismuschef von Aschau ist anwesend, Tränentücher werden gereicht, "um den Abschied von Aschau zu beweinen". Es ist ja mittlerweile hinlänglich bekannt, dass diese Tücher wenig später einem anderen Zweck dienen mussten, und diese gut gemeinte Aktion ins Zynische kehrte.
Rüdiger lässt ausrufen, dass er sein Rad vermisst, und seine Di2 dringend geladen werden müsste. Wir machen uns auf die Suche, und schnell finden sich Andere, deren Rad fehlt. Auch mein in den letzten drei Monaten lieb gewonnenes Cervélo S5 ist nicht dort, wo ich es abgestellt hatte, und da auch Alexanders Rad fehlt, das direkt an meinem Rad lehnte, wird zur Gewissheit, dass hier Diebe zugeschlagen haben. Die Polizei wird gerufen, und die Stimmung sackt schlagartig auf den Gefrierpunkt. Immer mehr Geschädigte finden sich ein, und schließlich sind es 12 Teilnehmer, die der Polizei ihre Raddaten übermitteln.
Ich will unbedingt allen, die wollen, insbesondere mir, die Fahrt aus eigener Kraft nach Garmisch ermöglichen und beginne, nach Leihrädern in der Umgebung zu recherchieren.
Jan kommt auf mich zu und bietet mir an, die Etappe mit seinem Rad zu fahren. Er habe jetzt keine Lust mehr. Da kommen mir die Tränen, und ich heule wie ein Schlosshund. Ich heule nicht um mein Rad, auch nicht um meinen eigenen finanziellen Schaden, sondern um diesen Nackenschlag für die geilste quaeldich-Tour, die ich in meinen Augen je auf die Beine gestellt habe.
Natürlich – davon abgesehen sind es nur materielle Werte (weit über 50.000 € Schaden), und die Erkenntnis, dass Leib und Leben unversehrt blieben, relativiert die Scheiße.
Zwei Räder mit elektronischen Ultegras finden wir bei einem Radladen in der Nähe, und ich suche nach "Rennradverleih Chiemgau", "Rennradverleih München", "Rennradverleih Salzburg". Aha... Volltreffer. Gleich der zweite Hit ist das
Romantikhotel Gmachl in Elixhausen bei Salzburg, mit dem Xandi bei unseren Salzkammergutreisen zusammenarbeitet, und das sich stark im Rennradsegment engagiert.
Nach zwei Telefonaten die Zusage: 1 L, 2 M, 1 S haben sie zur Verfügung, und Fritz, der Chef vom Gmachl, bringt sie uns persönlich vorbei. Wir brauchen nur fünf Räder, die anderen sechs haben genug. Daher: "Sensationell. Das S brauchen wir nicht, den Rest nehmen wir gerne". Ankunft 11 Uhr in Aschau. Unglaubliches Engagement.
Währenddessen fahren die anderen Gruppen los. Natürlich in gedrückter Stimmung, aber voll fokussiert. Jetzt darf nichts mehr passieren. Als alle Gruppen weg sind, sitzen wir vor dem Haus und starren Löcher in die Luft. Einige der geschädigten Teilnehmer kommen auf mich zu: "Jan, wir habens schon etwas verwunden. Wir denken schon über unsere neuen Räder nach." Die zwei Corratec aus dem örtlichen Radladen treffen ein. Die Akkus der elektronischen Ultegras sind wie angekündigt nicht geladen, und der eine Akku vermeldet sofort nach Einstecken 100% Ladestand. Um 11.30 Uhr kommt Fritz aus Elixhausen, wir laden die Räder aus, danken ihm überschwänglich und machen uns ans Ummontieren der Pedalen. 2 Look Keo, 3 Shimano SPD SL hatten wir bestellt, 3 Shimano SPD Mountainbikepedalen haben wir bekommen. Was nicht schlecht ist, denn Rüdiger fährt tatsächlich MTB-Pedalen, und zwei Sätze SPD-SL bekommen wir von persönlichen Freunden der Aktivhotelbelegschaft. Ohnehin unterstützt uns das Aktivhotel-Team mit aller Kraft. Danke auch dafür.
Um 12.15 Uhr sitzen wir endlich auf dem Rad. Letzte Deadline für den Start hatte ich auf 12 Uhr gesetzt, denn schließlich haben wir 144 km und 2050 Höhenmeter vor uns und nur bis 17.30 Uhr Zeit. Die Zugspitzbahn fährt um 18 Uhr zur Abschlussparty, und wir müssen noch 15 Minuten zum Bahnhof gehen. Ich schiebe die Bahn-Abfahrt 30 Minuten nach hinten. Leider müssen wir noch zweimal zurück, weil ein Umwerfer falsch eingestellt ist, und weil der eine Akku tatsächlich kaputt ist, was auch die kurze Ladezeit begründet. Jetzt bricht auch noch eine Sattelklemme, zum Glück bei dem anderen Corratec des örtlichen Radladens, so dass wir aus beiden Rädern ein funktionierendes machen können. Und jetzt haben wir in all dem Unglück RICHTIG Glück, denn Fritz hat aus dem Gmachl doch alle vier verfügbaren Räder mitgebracht, nicht nur die drei bestellten, und so macht sich Rüdiger auf dem Rad in M auf den Weg, was ihm zwar viel zu klein ist, aber "er führe auch auf einem Tretroller".
Um 12.29 Uhr sitzen wir endlich auf dem Rad und sind nicht mehr aufzuhalten. Thomas und Rüdiger aus Gruppe 1, Marcel, Alexander und ich aus Gruppe 2. Wir sind stark, und wir sollten das Ziel erreichen können. Die vier Airstreem-Renner vom Gmachl sind allerfeinste Sahne, richtig leicht, und sie laufen gut. Ich habe glücklicherweise eine mechanische Schaltung erhalten, die super läuft. An der ersten Verpflegung haben wir einen 32,7er-Schnitt, und wir sind erstmals optimistisch, das Ziel erreichen zu können. Waterboy und Sascha haben uns eine Schachtel mit dem Notwendigen zurück gelassen. Sie mussten natürlich weiter zur nächsten Verpflegung.
Thomas ermahnt uns, etwas ruhiger zu fahren. Wir sind zu hektisch, und wenn's so weiter geht, krachts noch – das brauchen wir wirklich nicht.
Jetzt aber kommen drei giftige Anstiege, und an der Mittagsverpflegung ist der Schnitt auf 27,5 gesunken. Ich habe schlechte Beine. Mein Ritt gestern auf die Roßfeldstraße rächt sich. Das erste und einzige Mal, dass ich mein S5 auf einen ordentlichen Berg ausgeritten habe, mit immerhin 1100 Hm/Stunde im Schnitt. Bittere Erkenntnis.
"Mal ehrlich: das schaffen wir nicht mehr", sagt Thomas, und er hat Recht. Ab hier müssen wir ohne Pause einen 30er-Schnitt halten, um pünktlich auf die Minute um 18 Uhr in Grainau zu sein. Damit ist klar: an der letzten Getränkeverpflegung dürfen wir nicht mehr anhalten, und die Kiste, die die Waterboys im Bretterverschlag gegenüber dem Gasthaus Post Vorderriß für uns hinterlegt haben, wird nicht zum Einsatz kommen.
Wir fahren weiter, und ich rufe die Sille an. Sie soll uns entgegen kommen und uns notfalls einsammeln, falls wir es nicht mehr schaffen. Ihr Mann meldet sich wenig später, er führe jetzt los und versucht, uns vor der Mautstraße einzusammeln. Auf breiten Straßen geht es weiter, den Achenpass hinauf. Hier haben wir einen 27,3er-Schnitt, ab jetzt heißt es laufen lassen, laufen lassen, laufen lassen. Wir versuchen, die Windphasen kurz zu halten. Selten fällt der Tacho unter 40.
Den Sylvensteinspeicher können wir kaum genießen, der Blick bleibt geradeaus gerichtet. Schnell fahren wir auf die Mautstraße ein. Hier mussten auch die anderen Gruppen Einerreihe einhalten, sonst hätten wir sie gar nicht befahren dürfen. Macht aber auch Sinn, die Straße ist schmal, und eigentlich sehr geil mit Aussichten nach links Richtung Hinterriß.
Am Ende der Mautstraße erwartet uns Jan. Thomas und Rüdiger beendigen die Qual hier. Alexander, Marcel und ich stürzen etwas Cola herunter und fahren weiter. Jetzt läufts bei mir. Die letzten 30 Kilometer fahre ich von vorne (sorry Alex, ich weiß, dass du auch in den Wind wolltest), stetig feilen wir Minute um Minute von der prognostizierten Ankunftszeit ab, und schließlich kommen wir um 17.56 Uhr am Hotel am Badersee in Grainau an. Große Erleichterung.
Der Rest ist Party, Party, Party vom Feinsten. Die Stimmung ist deutlich besser als erwartet, eigentlich richtig gut. In der Zugfahrt auf den Gipfel werden schon Erinnerungen an die letzten neun Tage erörtert, und oben auf dem Gipfelplateau gibts Willkommensweizen und Bilder, Bilder, Bilder. Der Zugspitzgipfel ist zum Greifen nah, einige lassen es sich nicht nehmen, zum Gipfelkreuz hochzusteigen (teils in Flipflops), und sogar Sergej überwindet seine Höhenangst und ist selig.
Sehr gutes Essen, und schließlich bittet Tom Glas zur Musik. Einige Tische werden beiseitegeschoben, und jetzt kennt die Party keine Grenzen.
Nachgedanken
Natürlich machen wir uns Gedanken, wie wir so einen Diebstahl demnächst verhindern können. Dass hier Profis am Werk waren, ist wohl klar. Denen muss man die Arbeit so schwer wie möglich machen. Hoteladressen werden wir nicht mehr im Internet veröffentlichen. Bei so großen Events wie Flensburg-Garmisch werden wir wahrscheinlich nicht um einen privaten Wachdienst umhin kommen.
Mein größter Dank gilt Fritz vom
Romantikhotel Gmachl in Elixhausen bei Salzburg. Er hat mir unter enormem persönlichen Aufwand ermöglicht, diese letzte Etappe mit eigener Kraft zuende zu fahren. Und hat uns für die Leihräder nichts berechnet. Nichts. Herzlichen Dank, ein großer Dienst für mich und für quaeldich.de.
Bitte teilt unsere Suchaktion nach den geklauten Rädern:
https://www.facebook.com/janvonquaeldich/posts/10200700050179880?pnref=story
Der Track auf Strava:
https://www.strava.com/activities/347160694
Ursprüngliche Etappenbeschreibung
Epische Abschlussetappe mit Vorderriß und möglichst früher Ankunft im Hotel am Badersee. Dann mit der Zugspitzbahn auf die Zugspitze, oben Abschlussparty auf 2962 m Hohe.
Die Etappe führt uns erst durchs bayrische Oberland und dann quer durch die Voralpen Richtung Garmisch. Der Wendelstein, der Tegernsee, der Sylvensteinspeicher, das Tal der oberen Isar am Karwendel sind nur einige Highlights auf dem Weg zum Dach der Tour, der Zugspitze.
Wenn wir morgens beim Schloss Hohenaschau das Hotel verlassen, rollen wir uns auf den ersten 8 km die Beine warm. Dann geht’s auch schon rauf in den welligen ersten Teil, auf Nebenstraßen, zwischen grünen Wiesen, Kühen und Bauernhöfen. Die erste schnellere Abfahrt bringt uns in Nußdorf in das auf 460 m liegende Inntal, wo wir den Fluss an einer Staustufe überqueren. Durch mehrere kleinere Orte führt die Route dann am Wendelstein vorbei zur ersten Getränkeverpflegung in Au bei Bad Feilnbach. Hier ist reichlich zu tanken, denn sofort im Anschluss geht’s in den 300 Hm langen Anstieg nach Niklasreuth auf 800 m. Noch eine Rampe nach Ortsausgang, dann öffnet sich ein weiterer herrlicher Blick auf das Bergpanorama (
siehe Bild).
Ist die Gruppe wieder komplett, steht nach einer schnellen Abfahrt nach Wörnsmühl wieder ein 150 Hm-Anstieg mit einer steilen Rampe zu Beginn auf dem Plan. Im Auf und Ab geht’s dann zwischen Miesbach und Hausham hindurch, bis wir plötzlich geradewegs auf den Tegernsee zufahren. Entlang des Seeufers teilen wir uns dann die Straße mit den Ausflüglern, die aus der Stadt in die Berge fahren – immer das Wasser in greifbarer Nähe – und erreichen die Hauptverpflegung am Südufer des Tegernsees in Rottach-Egern. Gut gestärkt geht’s über eine schier nicht enden wollende, nicht sichtbar ansteigende Straße Richtung Achenpass auf 941 m. Die Beine werden auf einer kurzen Abfahrt bei einem Abstecher nach Österreich gelockert, um dann im flotten Tempo zum grün-blauen Syslvensteinspeicher zu rollen, der uns nun einige Kilometer begleiten wird. Der Isar entgegen kommen wir an die letzte Getränkeverpflegung zu Beginn der schmalen Mautstraße nach Vorderriß. Diese führt durch das wilde Tal der oberen Isar, in dem man geneigt ist, nach kanadischen Grizzlybären Ausschau zu halten.
Bereits im Hintergrund zu sehen: das Wettersteingebirge mit der Zugspitze (
siehe Bild).
Ab Wallgau ist es nicht mehr weit, bevor wir auf der einzigen Straße im Tal, der B2, die letzten Kilometer Richtung Garmisch angehen. Dort angekommen, erwarten uns Blicke auf die Olympiaschanze und den alten Dorfkern von Garmisch. Nur noch ein paar Kilometer Bergauf sind es, bis wir unser Tourziel am Fuße der Zugspitze erreicht haben. Geschafft!